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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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anstößig, die Leidensgeschichte Christi mit der Passion irgendeines Menschen oder eben mit meiner eigenen Leidensgeschichte zu vergleichen und in Beziehung zu setzen, gerade jetzt nicht, wo ich den Auftrag bekommen habe,  Die Sieben letzten Worte  unseres Erlösers am Kreuze von Joseph Haydn neu zu texten. Wozu sonst sollte die Passion Christi denn da sein? Jeder hat seinen eigenen Countdown am Kruzifix. Die Musik der  Sieben Worte  wiederum ist das Ergebnis eines Auftrags, den ein Domherr der Kirche Santa Cueva in Cadiz erteilt hatte. »Es war in der Kathedrale von Cadiz üblich, jedes Jahr in der Passionszeit ein Oratorium aufzuführen, dessen Wirkung sicher durch die folgenden Umstände besonders unterstrichen wurde: Mauern, Fenster und Pfeiler der Kirche waren vollständig mit schwarzem Stoff bespannt. Nur eine einzige, von der Mitte der Decke herabhängende Lampe hob ein wenig dieses feierliche Dunkel auf. Mittags wurden die Türen geschlossen, und die Feierlichkeiten begannen. Nach einem beliebigen Präludium stieg der Bischof auf die Kanzel, sprach eines der sieben Worte und schloss daran einen Kommentar an. So hatte es mir mein geheimnisvoller Auftraggeber erzählt. Danach stieg der Bischof von der Kanzel herab und warf sich vor den Altar nieder. Die Pause wurde von der Musik ausgefüllt. Dann stieg er für jedes weitere Wort immer wieder auf die Kanzel, und nach jeder Ansprache spielte das Orchester. Diesen Umständen musste meine Komposition entsprechen«, schrieb Haydn. »Die Aufgabe, sieben Adagios von einer durchschnittlichen Dauer von zehn Minuten aufeinanderfolgen zu lassen, ohne dabei den Zuhörer zu ermüden, war keine einfache. Deshalb merkte ich rasch, dass es mir unmöglich war, mich an die vorgeschriebenen Grenzen zu halten.«
    Wenn sich Haydn nicht an vorgeschriebene Grenzen halten will und kann, warum dann ich? Ich bin kein Bischof und ich werde mich vor keinem Altar niederwerfen. Im Gegenteil glaube ich, dass diese seit zweitausend Jahren ohne Unterlass erzählte und also mit Abstand berühmteste Leidensgeschichte der Weltliteratur überhaupt nur den Sinn hat, dass man die Milliarden und Abermilliarden nachfolgenden Leidensgeschichten an ihr misst, ob sie größer oder kleiner, mehr oder weniger dramatisch, missionarisch oder privat, spektakulär oder unsichtbar waren oder sind. Oder damit man sich in sein Schicksal fügt, wie er sich gefügt hat und sich nicht auflehnt, wie er sich nicht aufgelehnt hat. Aber Verzweiflung bleibt Verzweiflung, Ohnmacht bleibt Ohnmacht, Leid bleibt Leid und Tod bleibt Tod. Es ist die wichtigste Aufgabe der Literatur und der Kunst überhaupt, Leidensgeschichten zu erzählen, das, was im öffentlichen Leben nicht mehr vorkommt, das, was keinen Platz hat in der Pracht des Offiziellen, in der Herrlichkeit des Konsums. Es ist notwendig, Leidensgeschichten zu erzählen, auf dass man nicht irrtümlich anfängt, die Welt gar so innig zu lieben, wenn sie einen verlocken will mit ihren romantischen Sonnenuntergängen und anmutigen Landschaften, ihrer Luft und ihrem Fleisch und ihren Früchten, ihren schönen Frauen und süßen Kindern. Es ist notwendig, Leidensgeschichten zu erzählen, damit man nicht vergisst, dass die Natur grausam und dumm, das Leid zufällig ist, die Wissenschaft blind, der Geist elend und machtlos.  La condition humaine.
    Und es ist auch wieder zwecklos und überflüssig, Leidensgeschichten zu erzählen, weil man nichts daraus lernt für sein eigenes Leid, wenn es geschieht; weil man sich auf sein Leid nicht vorbereiten kann, weil man dadurch nicht besser leidet, nicht qualifizierter, nicht professioneller, souveräner, routinierter; weil man sich in sein Leid eingekerkert, trotz aller Vergleiche und Beziehungen verlassen fühlt von Gott und der Welt: weil man verlassen  ist  von Gott und der Welt. Weil man sich immer wieder von Gott lossagen kann, obwohl man sich doch ohnehin zu allen möglichen katastrophalen Anlässen schon Dutzende Male von ihm losgesagt und diese Lossagungen niemals widerrufen hat. Es ist überflüssig, Leidensgeschichten zu erzählen, weil Leid Betretenheit, aber kein Mitleid kreiert.  Mitleid  im strengen wörtlichen Sinn wäre es gewesen, wenn alle rund um mich, die sich besorgt nach meinem Befinden erkundigt haben, ob jung oder alt, sofort ebenfalls Herzinfarkte bekommen hätten. Es hat aber keiner einen bekommen. Und es hat keiner außer mir tagtäglich die lebensverleidenden Nebenwirkungen der Medikamente zu

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