Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
Vom Netzwerk:
damit würzt, überhaupt im Sortiment der Diätassistentinnen der Rehaklinik im ewigen Winter des Wechselgebiets hoch über dem Tal, als da wären fettarmes Fruchtjoghurt, Diätmargarine, Apfelmus, Dünstgemüse, Gemüsesulze, die Ingredienzien der Hölle also, alles nur in kleinsten Mengen, in Spurenvorkommen, als angepatzter Teller versteht sich, Vollkornbrot, Leinsamen, Datteln, frisches Obst, kohlesäurefreies Mineralwasser, Kräutertee und ähnliche alimentäre Folterinstrumente. Vier unendlich lange Wochen war ich in diesem Voralpengefängnis, um mich für den spanischen Infarkt noch zusätzlich zu geißeln.
    Man kann – als Arzt und als Soldat – zynisch mit dem Essig umgehen und auf seine vielen Vorzüge hinweisen. Wie mir die Ärzte ihren Essig – sinngemäß gesprochen – als letzten Stand ihrer Wissenschaft ja zu meinem eigenen Besten verschreiben, hätte auch der Soldat mit seinem Essigschwamm am Ysopzweig dem Erlöser die Etikette vorlesen und sagen können, dass die Wahl der Weine und die traditionelle Lagerung in Eichenfässern dem Weinessig seinen köstlichen Geschmack verleihen. Oder dass der original italienische Balsamico, eine Spezialität aus der Provinz Modena, mit besonderem Aroma und charakteristischem Geschmack, aus dem Most ausgesuchter Trauben hergestellt wird. Oder dass der naturtrübe Bio-Apfelessig aus frischen, sonnengereiften steirischen Äpfeln aus kontrolliert biologischem Anbau im natürlichen biologischen Gärverfahren hergestellt wird – ein reines Naturprodukt ohne chemische Konservierungsstoffe. Und gesund, König der Juden, gesund! Mahlzeit, Messias!
    Aber Essig bleibt Essig, und wenn es mit etwas Essig ist, dann ist es nichts damit. Es ist Essig mit mir, Essig mit meinem Leben, meiner Existenz, meinem Schreiben. Mich dürstet, Doctores! Seit ich keine Zigarette mehr rauchen darf, ist es düster in mir und um mich herum geworden. Seit ich nicht mehr rauchen darf, bin ich nicht einen einzigen Augenblick lang wirklich glücklich gewesen. Seit ich mein Leben nicht mehr leben darf oder kann, wie ich will und wie es mir passt, kann ich nicht mehr schreiben, was das Höchste und einzig wirklich Wichtige in meinem alten Leben gewesen ist. Erstmals gehorche ich: Das ist jetzt der Untergang. Seit ich keine Verbote mehr übertrete, ist es aus mit mir. Seit ich mein Leben nicht mehr leben kann wie ich will, zähle ich die Tage herunter bis zum Ende, als ob danach noch irgendetwas käme, und streiche jeden einzelnen Tag meines Lebens am Abend am Kalender aus wie eine unangenehme Erledigung, die ich widerwillig, aber pflichtbewusst auf mich genommen und hinter mich gebracht habe. Ich werde der erste Nichtrauchtote der Medizingeschichte sein, der Erste, der an gebrochenem Herzen wegen all der verbotenen, ungerauchten Zigaretten meines Lebens sterben wird!, habe ich meiner Kardiologin in der Rehaklinik gesagt, und ich arbeite nach wie vor hartnäckig und entschlossen an meiner Selffulfilling Prophecy. Wenn es mir gelungen ist, aus meinem alten stilvollen, glanzvollen, wenn auch womöglich ungesunden Leben in mein neues schäbiges und letztlich auch nicht gesünderes Leben irgendetwas herüberzuretten, dann ist es mein Dickschädel. Nur wendet der sich jetzt gegen sich selbst.
    Mich dürstet, Doctores, ohne Zigarette kann ich nicht schreiben, und ohne zu schreiben bin ich nichts. Aber Sie schreiben doch gerade!, sagen sie. Nein, sage ich, ich  arbeite  jetzt: Das ist ein großer Unterschied. Ich schreibe nicht mehr, wie ich könnte, wenn ich dürfte, wie ich wollte. Das hier ist nicht mehr das, was ich entstehen lassen, das, was ich schaffen will. Ich bin ein anderer, der anderes erschafft. Das verstehen die Ärzte schon nicht mehr, und es ist ihnen wohl auch egal.  Aktuell kein Therapiebedarf.  Aus mir ist einer geworden, den ich nicht mehr mag. Ein gefügig Gemachter, ein Todesangsthase. Der, der da jetzt in meinem Namen gewissermaßen postum weiterschreibt, hat wenig mit meiner Seele zu tun und schreibt nur noch, wie es im Johannesevangelium 17, 12 über Jesus heißt, »damit die Schrift erfüllt werde«.
    Mich dürstet nach meinen Zigaretten, damit ich leben und schreiben kann, sage ich den Ärzten seit einem Jahr bei jedem einzelnen Besuch mit wachsender Verzweiflung, ich bin todunglücklich. Daraufhin verschreiben sie mir Tresleen oder Xanor oder Trittico, Psychopharmaka, stimmungsaufhellende Mittel, deren am Beipackzettel angeführte Nebenwirkungen viel fataler sind oder sein

Weitere Kostenlose Bücher