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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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Pyjama des Hospital Universitario de Salamanca auf wundersame Weise wieder völlig schmerzfrei (oder genauer: nur noch mit einem Schatten des gestrigen Riesenschmerzes – also mit der panischen Angst, der entsetzliche Schmerz könnte zurückkehren) – aber eben ein für allemal vor vollendete medizinische Tatsachen gestellt – in der Intensivstation erwachte, Doktor Perez mit strahlender Miene am Fußende meines Bettes stand und mich mit den Worten »How are you?« im Reich der Lebendigen willkommen hieß, da verstand ich stattdessen »Who are you?« und antwortete schwach, erschöpft, verzagt »I don’t know!« Wer war ich? Was war ich? War ich oder war ich nicht? War ich am Leben? War ich ohnmächtig? Träumte ich das alles? Träumte ich den Schmerz? Träumte ich, dass der Schmerz mich verlassen hatte? War ich im Koma? War ich tot? War ich ich? Auf alle Fälle hatte ich das Flugzeug versäumt.
    Meine Mutter war zu Hause, also zweitausend Kilometer entfernt und hatte gar keine Gelegenheit, nach Mutterart an mein Krankenbett zu treten. Die Verwendung des Mobiltelefons in der Intensivstation war natürlich untersagt. Ich habe aber, wenn ich mich jetzt nach einem Jahr recht erinnere, auch nach meiner Überstellung in die allgemeine Station weder mit ihr noch mit meinen Kindern noch mit meinem Bruder telefoniert, da ich nicht immer wieder schildern und erklären wollte, was ich mir selbst nicht erklären konnte und was mir letztlich auch keiner der vielen Ärzte, mit denen ich seither gesprochen habe, wirklich schlüssig und konkret erklärt hat. Ich konnte selber noch nicht ganz glauben, was mir passiert war, und ich hätte meinen Infarkt am liebsten vor aller Welt verborgen und verschwiegen, was aber freilich nicht möglich gewesen ist: Solche Nachrichten verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Ein Herzinfarkt ist ein Kainsmal, nachgerade in so jungen Jahren, als würde der Herzinfarkt alles widerlegen und entwerten, was ich bis zum Herzinfarkt gesagt und geschrieben und getan habe, als wäre er einfach die Quintessenz meines falschen Lebens und meines falschen Denkens, meines falschen Seins und meines falschen Werkes. Wie jeder andere war auch ich an meinem Herzinfarkt selber schuld. Dieser Herzinfarkt war als eine Art vegetativer Selbstmord gleichsam das schlagartige Eingeständnis, in meiner gesamten Existenz dramatisch versagt zu haben. Welchen anderen Grund sollte es auch schon geben, sein ganzes Leben anschließend von Grund auf zu ändern? Vor lauter Erfolg ändert man es ja nicht: Jedenfalls habe ich selber als Patient mein spanisches Schicksal so empfunden, und die Ärzte und Gesundheitsmediziner unterstützen dieses Empfinden: Ich habe eben nicht positiv genug gedacht und nicht autogen genug trainiert und zu wenig nicht geraucht, und auf dem Teller war zu wenig gähnende Leere zwischen den Gemüsen. Und dann passiert das. So kommt es zum Selbstekel und zur Depression, die einen nach einem Herzinfarkt überfallen, unter der Bedingung freilich, dass man ihn überlebt.
    Ich hatte bis damals noch kein Testament verfasst und habe es – trotz allem – auch bis heute nicht. Was hätte ich denn schon zu vererben außer dem, was geschrieben steht? Nach mir mein Mittelfinger. Mein letzter Wille müsste sich noch zu Lebzeiten in die Tat umsetzen lassen. In meine Beerdigung setze ich keine großen Hoffnungen. Und dieser letzte Wille bezieht sich auch nicht auf die Zeit nach mir. »Mein letzter Wille«, kritzle ich zur Probe auf ein Blatt Papier, unterstreiche, denke nach, und dann schreibe ich: »Mein letzter Wille ist eine Zigarette.« Aber wer könnte ihn mir noch erfüllen bei der Testamentseröffnung?
    An die Testamentseröffnung dachte ich in der Klinik freilich nicht. Ich hatte nur das eine Interesse, die Urinflasche so schnell wie möglich wieder loszuwerden, den Infusionsständer, die Infusionsflaschen, den Spitalspyjama, so schnell wie möglich an eine Zigarette heranzukommen, so schnell wie möglich in einem Flugzeug nach Hause zu sitzen, die Dinge für ungeschehen zu erklären, so schnell wie möglich das aktuelle Debakel vergessen und mein altes Leben wieder aufnehmen zu können. In Wirklichkeit aber wurde, was mir passiert war, mit jedem Tag, den es weiter zurücklag, immer ärger, schlimmer, unvergesslicher, debakulöser.
    Inflationäres Spitzenprodukt der Evolution
    Oder: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (4. Wort)
    Ich halte es weder für blasphemisch noch für ungehörig oder

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