Acacia 01 - Macht und Verrat
ab. Als sie das Behältnis neigte, rieselte die Asche heraus, wurde vom Wind wie Rauch über die Trauergäste hinweggeweht, über die Insel. Alivers Asche entließ sie gleich darauf auf dieselbe Weise und dankte ihm für seinen Heldenmut, für den man ihn niemals vergessen werde. Dann neigte Corinn den Kopf und forderte die Anwesenden damit auf, der Toten schweigend zu gedenken.
Mena senkte den Kopf, schloss jedoch die Augen nicht. Sie beobachtete ihre Schwester, die dastand, einen Arm um ihren Bauch gelegt, während sich ihre Finger rhythmisch hin- und herbewegten, zu einem Rhythmus in ihrem Kopf. Sie verharrte still im Wind, als wollte sie ihn mit ihren scharfen Gesichtszügen zerschneiden. Ergriffen wirkte sie nicht. Ungeduldig, ja, aber vor allem unbeteiligt.
Mena kamen wieder die Fragen in den Sinn, die ihr seit Alivers Tod zusetzten und jetzt auch diesen besinnlichen Moment störten. Sie fragte sich, ob Aliver einen Fehler gemacht hatte, als er sich damit einverstanden erklärte, gegen Maeander zu kämpfen. Hatte er gewusst, dass er unterliegen würde, oder hatte das Verlangen nach Rache seine Urteilskraft getrübt? Sie hoffte, dass dem nicht so gewesen war. Sie wollte gern glauben, dass er seinen Willen in die Tat umgesetzt hatte und dass selbst der Ausgang von ihm gewollt gewesen war. Sie wollte glauben, dass ihr Vater vor vielen Jahren absichtsvoll diese Kette von Ereignissen in Gang gesetzt hatte. Und sie wollte glauben, dass dies alles auf ihn zurückging. Anders als ihre Schwester vermochte Mena sich jedoch nicht mit Gewissheiten zu trösten.
Als die Asche verstreut war, wandte Corinn sich um und musterte die ernsten Gesichter der Trauergäste. Sie schien wenig Geduld für die Gefühle übrig zu haben, die sie in ihnen las. »Ihr, die ihr hier versammelt seid«, sagte sie mit erhobener Stimme, da sie den Wind übertönen musste, »repräsentiert sämtliche Völker der Bekannten Welt. Tut es mit Stolz und voller Hoffnung auf die Zukunft. Diese Könige Acacias... sie sind frei, genau wie unser Reich. Jetzt liegt es an uns, die Welt zu erschaffen, welche diese beiden Männer sich erträumt haben.« Ihr Blick verweilte einen Moment lang auf Mena, dann wanderte er weiter. »Und nun wollen wir nicht länger trauern und uns stattdessen den kommenden Tagen zuwenden, wie Leodan und Aliver es sich gewünscht hätten. Stellen wir uns ihnen gemeinsam, mit Stärke in unseren Herzen und Vertrauen in alles, was wir tun.«
Corinn wandte sich von der Klippe ab. Neben Mena blieb sie stehen, neigte sich zu ihr und sagte: »Willst du wirklich wissen, was ich den Numrek versprochen habe? Ihr größter Wunsch ist, in ihre Heimat zurückzukehren und an den Lothan Aklun, die sie einst in die Eiswüste gejagt haben, Rache zu nehmen. Ich glaube, dieser Krieg liegt in unserem ureigensten Interesse. Wenn die Zeit reif ist, werden wir anfangen, uns darauf vorzubereiten. Dann werden wir, die Numrek und die Gilde eine Flotte aufstellen und sie über die Grauen Hänge gegen die Lothan Aklun ins Feld führen. Haben wir sie erst geschlagen, kontrollieren wir den Handel mit dem Anderland. Dann werde ich die Macht haben, die Welt zum Besseren zu wandeln.« Sie trat zurück und blickte ihrer Schwester in die Augen. »Es sind noch nicht alle unsere Schlachten geschlagen, Mena. Wir werden erst dann in Sicherheit leben, wenn sich die ganze Welt vor uns verneigt. Jetzt weißt du, was ich vorhabe.«
Damit ging sie davon und ließ Mena inmitten der Trauergäste stehen. Melio fasste sie bei der Hand und erkundigte sich, ob es ihr gut gehe. Den Blick auf Corinns Rücken gerichtet, wurde ihr bewusst, dass sie bislang noch nicht richtig zur Kenntnis genommen hatte, wie die Welt jetzt beschaffen war und wer darüber herrschte. Jetzt erst wurde ihr bewusst, wer ihre Schwester wirklich war. Sie hatte den Titel bereits gehört, doch erst jetzt war ihr die immense Bedeutung und das Gewicht der Worte bewusst. Sie war wie betäubt. Dort vor ihr, im Dämmerlicht des windgepeitschten Abends schritt inmitten ihres Gefolges die Königin von Acacia den Hang hinunter, die Unterarme um den Thronerben gelegt und der Zukunft zugewandt, die sie nach ihrem Willen formen würde.
ERSTES BUCH
Das Idyll des Königs
1
Der Attentäter verließ die Mein-Feste Tahalia durch das große Vordertor; er ritt durch eine Lücke in den gepanzerten Kiefernbalken, die gerade breit genug war, um ihn durchzulassen. Er brach bei Sonnenaufgang auf, gekleidet wie ein gewöhnlicher
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