Acacia 01 - Macht und Verrat
er suchte. Das Geräusch war leise, aber nicht zu leugnen. Ja, es hörte sich an, als ob jemand atmete. Oder wie ein Herzschlag... Der Kundschafter hatte nicht gelogen. Und es hatte einen Rhythmus, einen pochenden Takt. Eine absichtsvoll gegliederte Reihenfolge …
Er fuhr auf dem Knie herum und brüllte den Soldaten zu, Gefechtspositionen einzunehmen. Dann rannte er zur Kolonne zurück, befahl seinen Männern, die Reihen zu schließen, mit gehobenem Schild und gezückten Waffen, die Gesichter nach außen gewandt. Er wies die Bogenschützen an, die Pfeile im Köcher zu lassen und stattdessen die Schwerter zu ziehen, die nicht windanfällig und auf kurze Distanz tauglicher waren. Den Schlittenführern befahl er, inmitten der Soldaten einen Kreis zu bilden und die Hunde zusammenzutreiben. Der Offizier, der ihn zuvor angerufen hatte, erkundigte sich, was er entdeckt habe. Leeka sah dem jungen Mann in die Augen und gab eine simple Antwort: »Da wird eine Kriegstrommel geschlagen.«
Als die Armee einen Verteidigungskeil gebildet hatte und fünfhundert Augenpaare nordwärts in das wachsende Toben des Nordens blickten, hörten sie es schließlich alle. Eine Stunde lang lauschten sie nur. Das Geräusch dröhnte unablässig hinter dem Wind, der jetzt schwer vor Schneeflocken war, die an Kleidern, Schilden und pelzbesetzten Säumen hafteten und schließlich sogar an der unterkühlten Haut ihrer Gesichter, bis sie alle wie kunstvolle Schneeskulpturen aussahen. Irgendwann vermischte sich das Dröhnen mit dem Herzschlag des Generals. Deshalb traf es ihn wie ein Schlag, als das Geräusch verstummte. Es brach einfach ab. In der darauf folgenden Stille wurde Leeka bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Die Trommel schlug nicht erst seit Stunden, sondern schon seit Tagen. Vielleicht ertönte sie schon wochenlang, ohne dass er es bemerkt hatte. Wie hatte ihm so etwas nur entgehen können?
Allerdings sollte er sich nicht lange mit dieser Frage beschäftigen. Eine Kreatur tauchte aus dem Schneevorhang auf. Sie stürmte ihnen entgegen, ein gehörntes, riesenhaftes Wesen mit wolligem Pelz. Ein Mann ritt darauf, eine in Häute und Felle gekleidete Gestalt; er hielt einen Speer in der Hand, und aus seinem unsichtbaren Mund drang ein Schrei. Die Bestie prallte unmittelbar neben der Leibwache des Generals in die Reihen seiner Männer und durchbrach sie, als wären die Soldaten von keinerlei Bedeutung. Einige zertrampelte sie, andere schleuderte sie beiseite, ohne langsamer zu werden oder die Richtung zu ändern. Ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht war, verschwand sie hinter den Soldaten wieder. In den wenigen Augenblicken, die ihm dazu blieben, zählte Leeka zehn Tote und doppelt so viele Verletzte, die sich auf dem blutbespritzten Schnee krümmten.
Jemand legte ihm die Hand auf die Schulter. Er fuhr herum und sah – wie er bereits vermutet hatte -, dass der Reiter nicht allein gewesen war. Die übrigen Angreifer wurden alle gleichzeitig sichtbar, als hätte der Schneefall plötzlich nachgelassen. Es waren so viele, eine fremdartige Masse. Er ahnte, dass dieses Grauen das Letzte sein sollte, was seine Augen erblicken würden, und wusste, dass es ihm selbst dann, wenn seine Nachricht ihr Ziel erreicht hatte, nicht gelungen war, den König und das Volk angemessen vor dieser fürchterlichen Bedrohung zu warnen.
6
Spät am Abend hörte Leodan Akaran, wie jemand sein Privatgemach betrat. Er hob den Kopf nicht, doch er wusste, wer das war. Die abgehackten Schritte des Kanzlers hatten einen unverwechselbaren Rhythmus, was wohl auf dessen steifes rechtes Bein zurückzuführen war. Ein Bediensteter hatte soeben seine Nebelpfeife entzündet und sich zurückgezogen. Der durchdringende Geruch der Droge war im Moment das Einzige, worauf es ankam. Den ganzen Tag über hatte sich ein Phantom an seinen Hinterkopf geklammert, ein Verlangen, das er sich als ein fledermausartiges Wesen vorstellte, das sich seinem Schädel anschmiegte, seine Krallen spitz und dünn wie gebogene Nadeln, wo sie seine Haut durchbohrten, bis sie am Knochen Halt fanden. Bei seinen morgendlichen Besprechungen hatte es ihn gepackt, hatte ihn vorübergehend losgelassen, als er eine Stunde mit Corinn verbracht hatte, war dann am Abend jedoch mit geschärften, bösartigen Krallen zurückgekehrt. Es quälte ihn beim Essen und nagte an ihm, als er Dariel zu Bett brachte.
Als Dariel ihn um eine Gutenachtgeschichte bat, hatte Leodan das Gesicht verzogen, eine unwillkürliche
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