Acacia 01 - Macht und Verrat
stiegen sie die nächste Treppe empor. »Jeder verliert hin und wieder einen Zweikampf, und das wissen die dort hinten auch alle. Aber wie viele von ihnen könnten...« Er suchte nach passenden Worten. »Also, wie viele von ihnen könnten sich so in eine solche Verlegenheit bringen wie du eben und hätten den Mut, alles mit einem Achselzucken abzutun? Das ist auch eine Möglichkeit, Stärke zu zeigen, ganz gleich, ob sie es anerkennen oder nicht. Und hör auf zu schmollen. Das passt nicht zu dir. Aliver, du bist ein guter Schwertkämpfer. Deine traditionellen Figuren sind besser als alle anderen. Es ist nur so, dass du nur die Figuren kennst, sonst nichts. Beim eigentlichen Fechten geht es darum, dass man sie anpasst, sie aneinanderfügt, man ist gezwungen, ständig neue Kombinationen zu erfinden. Du musst die Figuren so rasch aufeinanderfolgen lassen, dass es außerhalb des bewussten Denkens geschieht. Als würdest du ein Messer vom Tisch stoßen, und es gelingt dir, es aufzufangen, bevor es den Boden berührt. Du darfst nicht darüber nachdenken; es geschieht einfach. Das musst du tun, wenn du kämpfst. Und dann hat dein Verstand Raum, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen – zum Beispiel damit, wie du dem Drecksack einen Aufwärtshieb in die Eier verpassen kannst.«
»Wie kommt es eigentlich, dass du so klug bist?«, fragte Aliver nicht besonders freundlich.
Melio hatte die oberste Stufe erreicht und drehte sich zu Aliver um. Er grinste. »Das habe ich in einem Handbuch gelesen. Ich kenne auch eine ganze Menge Gedichte. Die Mädchen mögen das. Hör zu, wir üben irgendwann einmal miteinander. Ich werde es dir natürlich nicht leicht machen, aber wir werden uns gegenseitig etwas beibringen. Wir könnten die Vierte Figur durchgehen, wie du es vorgeschlagen hast. Wir können viel voneinander lernen. Was hältst du davon?«
»Vielleicht«, meinte Aliver, obwohl er bereits wusste, wie seine Antwort lautete. Er war bloß nicht bereit, so rasch nachzugeben.
5
Es waren nicht nur die Gerüchte von einer marodierenden Armee. Auch nicht nur der Bericht von der Zerstörung der Stadt Vedus. Das waren die Sorte Übertreibungen, die General Leeka Alain bislang zu Recht ignoriert hatte. Diesmal war es anders. Irgendwo in der Weite des Mein war eine ganze Patrouille verloren gegangen. Das ließ sich nicht so leicht wegerklären. Dort draußen ging irgendetwas vor. Er konnte nicht mehr schlafen oder essen oder an irgendetwas anderes denken als an die Schatten, die sich hinter dem dahintreibenden Weiß verbargen. Er hatte bereits eine Botin zum König geschickt, um ihm das Wenige zu berichten, das er wusste, doch er wusste, dass er nicht auf eine Antwort warten konnte. Er beschloss zu handeln, so gut er konnte.
Leeka beorderte seine Armee aus der geschützten Wärme der Festung Cathgergen. Er führte sie hinaus in das schräg einfallende Licht des Nordwinters, über den Gletscher des Mein-Plateaus. Am Ostrand des Mein liegt eine riesige Tundra, genannt das Ödland, ein wogendes, unwegsames Land, baumlos aufgrund der peitschenden Winde und weil das, was hier einst an Wäldern gestanden hatte, schon vor Jahrhunderten gefällt worden war. Das Fortkommen war hier bestenfalls beschwerlich. Mitten im Winter war es besonders gefährlich. Hundeschlitten ebneten Pfade für die Armee und beförderten den Großteil der Zelte und Verpflegung, genug, um fünfhundert Mann mindestens sechs Wochen lang bei Kräften zu halten. Die Soldaten marschierten in schweren Stiefeln. Sie hatten sich in wollgefüttertes dickes Leder gehüllt und die Waffen am Leib festgebunden, damit sie von ihnen nicht behindert wurden. Die Hände schützten Fäustlinge aus Kaninchenfell.
Den Vorposten Hardith erreichten sie ohne unerwartete Schwierigkeiten. Zwei Tage lagerten sie in der Nähe des Erdbauwerks, sehr zur Freude der erstaunten Soldaten, die hier postiert waren, Männer, deren Aufgabe es war, den Verkehr auf der Straße zu überwachen, deren Hauptbeschäftigung jedoch der tägliche Überlebenskampf war. Der Vorposten markierte den Westrand des Ödlands. Weiter im Westen senkte sich das Land zu einer Reihe von breiten, flachen Mulden, in denen noch Reste des ehemaligen Kiefernbestands erhalten waren.
Drei Tagesmärsche hinter Hardith brach ein Schneesturm über die Soldaten herein. Er fiel über sie her wie ein Vielfraß, drückte sie zu Boden und versuchte, sie in Fetzen zu reißen. Sie kamen vom Weg ab und verbrachten einen ganzen Tag mit der
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