Acacia 01 - Macht und Verrat
dass jetzt jemand nach Recht in der Welt strebte, dass einige kämpften, damit danach ein größerer Friede herrschen konnte? Sie fürchtete diese Frage. Er könnte sie gegen sie wenden und ihren Anspruch auf Rechtschaffenheit anfechten – Mörderin, die sie war, so leicht in Raserei zu bringen, so geschickt im Töten. Vielleicht war Hanish kein größerer Schurke, als sie es war. Vielleicht gab es gar keinen Unterschied zwischen Gut und Böse …
Eine Hand riss die Zeltklappe auf, und ein Lichtschwall blendete sie einen Moment lang. Und dann vernahm sie die Stimme Leeka Alains, eine ungewöhnliche Ehrfurcht schwang darin mit. »Prinzessin, kommt. Das solltet Ihr sehen. Irgendetwas geht da vor.«
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Rialus Neptos war ein armseliges Männlein. Niemals wurde dies deutlicher, als wenn er von mehreren Numrek-Kriegern flankiert wurde, hoch gewachsenen, breitschultrigen Männern mit gewaltigen Muskelknoten an den Gelenken, die sich wie Pampelmusen unter der geröteten Haut wölbten. Er war ein Wiesel in Gesellschaft von Wölfen. Jeder der Numrek, die sich in den Geheimgängen bücken mussten, hätte den Botschafter mühelos packen und mit einer seiner harten Hände zu Tode schütteln können. Hätte Corinn ihn nicht gebraucht, um ihre Anweisungen zu übersetzen, hätte sie die Krieger vielleicht gebeten, genau dies zu tun. Seltsam, dachte sie, dass ihr Schicksal von solch zweifelhaften Verbündeten abhing.
Bislang hatte sie nur selten Gelegenheit gehabt, den Numrek so nahe zu kommen. In den neun Jahren seit dem Krieg hatte sie einige Male bei Festessen in ihrer Nähe gesessen, doch am deutlichsten war ihr ihre damalige Blässe im Gedächtnis geblieben. Zum ersten Mal hatte sie kurz nach ihrer Gefangennahme und der Rückkehr nach Acacia einen ihrer Trupps gesehen. Ihre Haut war bleich gewesen, mit einem leicht bläulichen Ton, und hatte gerade erst angefangen, sich in der Sonne zu röten. Sie glichen Höhlenwesen, die unvermittelt in den Sonnenschein gestoßen worden waren. Damals hatten sie ganz anders ausgesehen als die glatthäutigen, sonnengebräunten Wesen, die nun vor ihr standen. Beinahe hätte sie sie für völlig unterschiedliche Geschöpfe gehalten, wenn sie sich nicht an ihren Körperbau, ihre vollen, dunklen Haare und ihre hageren und gleichzeitig irgendwie fleischigen Gesichter erinnert hätte. Damals hatte sie sie aus ganzem Herzen verabscheut. Jetzt empfand sie nicht viel anders.
Allerdings ging es nicht um ihre Gefühle, sondern um die Arbeit, die zu tun war.
Noch vor wenigen Stunden hatte sie neben Hanish im Bett gelegen. Ihre Fingerspitzen hatten die seinen berührt, und sie hatte seinen Schlafgeräuschen gelauscht. Zuvor hatten sie sich unter Tränen schweißüberströmt in den Laken gewälzt. Sie hatte ihm ins Ohr gekeucht, und er hatte immer wieder ihren Namen geflüstert. Und davor hatten sie einander einfach nur in den Armen gehalten, erschüttert von der Nachricht vom Tod ihrer Brüder. Die Ironie des Ganzen verschlug ihnen den Atem. Aliver und Maeander, gegenseitige Opfer; Corinn und Hanish ein Paar, das so tat, als habe ihre Affäre mit dem zwischen ihnen tobenden Kampf nichts zu tun.
Doch das war vorhin gewesen, bevor es hell geworden war. In Wahrheit hatte alles mit ihnen zu tun, und sie wusste, dass Hanish dies ebenso glaubte wie sie. Als sie sich vor wenigen Minuten von ihm getrennt hatte, hatte sie ihn auf den Mund geküsst und ihm gutes Gelingen dabei gewünscht, die Erlösungszeremonie zu beginnen. Es sei an der Zeit, hatte sie gesagt, mit dem Heilen zu beginnen, den Wahnsinn des Krieges zu beenden und den uralten Hass zwischen ihren Völkern zu begraben. Es sei an der Zeit, die Toten zu ehren. Sie hatte ihm versprochen, sich bereit zu machen und dann zu ihm zu kommen. Stattdessen ging sie in ihre Gemächer, schloss die Tür hinter sich und schlüpfte in den verborgenen Eingang, den Thaddeus ihr beschrieben hatte. Rialus und die Numrek erwarteten sie am verabredeten Ort – innerhalb der Palastmauern.
Sie waren tatsächlich gekommen. Gerüstet und schwer bewaffnet standen sie da und verpesteten die Luft mit ihrem stinkenden Atem. Sie verspürte einen Anflug von Panik und überwand sie, indem sie an den Verrat dachte, den Hanish an ihr plante, sich ihr Gelöbnis ins Gedächtnis rief, nie wieder das Opferlamm zu spielen, ihr Versprechen bekräftigte, ihren Bruder zu rächen, und sich die wundervollen Versprechen von Das Lied von Elenet vergegenwärtigte.
Rialus diente als
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