Acacia 01 - Macht und Verrat
Finger hätten ihm die Verletzung zugefügt, weil sie ebenso scharf waren wie eine Klinge.
Doch das war alles Vergangenheit. Jetzt schlief Melio unruhig und hielt sie mit einer Hand fest, schützte sie. Was für ein seltsamer Gedanke. Wovor hätte sie Schutz gebraucht? Ihr Körper verlangte dringend nach Schlaf, doch sie wehrte sich dagegen. Sie fürchtete sich davor, dass ihr Unbewusstes etwas Grauenhaftes aus diesem versehentlichen Abrutschen ihrer Finger heraufbeschwören würde.
»Wie kannst du tot sein?«, fragte sie abermals.
In der darauf folgenden Stille wandten sich ihre Gedanken etwas anderem zu, das sie in ihrem Kopf mit sich herumgetragen hatte, einer Unterhaltung, die sie vor dem Zweikampf mit Aliver geführt hatte. Als sie aus dem Beratungszelt traten, hatte er sie beiseitegenommen. Er hatte gewartet, bis die anderen außer Hörweite waren, dann hatte er ihr in die Augen gesehen. »Sollte ich sterben«, sagte er, »nimm des Königs Vertrauten in Verwahrung. Wenn du glaubst, er sei bereit dafür, gib ihn Dariel. Ich möchte, dass er ihn bekommt. Du brauchst ihn nicht, habe ich recht, Mena? Du hast dir dein eigenes mythisches Schwert erschaffen.«
Er lächelte. »Noch etwas, und das ist wichtig. Du musst bereit sein, die Santoth anzurufen.« Sie wollte Einwände erheben, doch Aliver fiel ihr ins Wort. Er sagte, sie müsse diese Verantwortung übernehmen. Falls er fallen sollte, werde alles auf ihr und Dariel lasten. Dariel sei sehr stark, doch er sei noch zu ungefestigt. Er sei der Jüngste und würde zu gefühlsbetont sein, bis ihm das ausgetrieben würde. Sie allein würde genug Übersicht haben, um inmitten des ganzen Durcheinanders einen Hilferuf an die Santoth zu richten. Sie entgegnete, sie wisse nicht, wie man das anstelle, doch er meinte, das werde sie lernen, wenn die Zeit gekommen sei.
Er sagte: »Ich habe nicht vor, euch heute zu verlassen, Mena. Aber falls es dazu kommen sollte – und falls unsere Unternehmung zu scheitern droht -, ruf die Santoth. Sprich mit Nualo. Er ist einer von ihnen, ein sehr guter Mann, Mena.«
»Was ist mit dem Lied von Elenet? «, hatte sie gefragt.
Aliver hatte sie traurig angesehen. »Das weiß ich nicht. Glaubst du wirklich, ich wüsste, wie man das alles macht, Mena? Das tue ich nicht. Ich wünschte, wir hätten das Buch, aber ruf sie auch, wenn du es nicht hast. Und dann... warte ab, was passiert.«
Und dann war er in den Ring getreten und hatte den Tod gefunden.
Hatte er das wirklich gesagt? Warte ab, was passiert? Es war kaum vorstellbar, dass man solch gewaltigen Herausforderungen mit diffusen, hoffnungsvollen Gefühlen wie diesen begegnen könne. Was die Verständigung mit den Santoth anging, so hatte Aliver sich so vage ausgedrückt, dass Mena es bislang noch nicht versucht hatte. Dazu müsse man seinen Geist öffnen, hatte er gemeint. Man müsse sich in einen ruhigen, vertieften Zustand versetzen, seinen Geist leeren, bis auf den Wunsch, sich mit ihnen zu verständigen. Dann sende er den Ruf aus, und seine Gedanken fänden von allein die Richtung. Bisweilen dauere es eine Weile, doch irgendwann vernähme er ihre Antwort. Dann spräche er von innen heraus zu ihnen. Bis zu einem gewissen Grad läsen sie seine Gedanken, doch er könne ihnen auch bestimmte Gedanken übermitteln. Dies erfordere Geduld und Glaube …
Ja, hatte er gesagt, auch das. Es erfordere Glaube ; das gleiche Wort hatte sie auch Dariel ins Ohr geflüstert. Mit Alivers Tod aber schien aller Glaube sinnlos geworden zu sein. Vielleicht traf das auch zu, oder aber der Glaube zählte nur in höchster Not, wenn es sonst nichts mehr gab, worauf man sich verlassen konnte. Jetzt befand sie sich in genau so einer Lage. Wenn nicht ein Wunder geschah, würden die Mein morgen alle abschlachten, die sich ihnen entgegenstellten. Sie würden einen leichten Sieg davontragen. Deshalb beschloss sie, es noch einmal mit dem Glauben zu versuchen. Sie hatte es versprochen, also würde sie es tun.
Sie schaute sich um, als könnte sie vielleicht ein Werkzeug finden, das ihr helfen könnte. Sollte sie vielleicht die Gegenstände im Zelt anders anordnen? Sie überlegte, ob sie den Fuß aus Melios Griff lösen sollte. Doch es gab keine Werkzeuge, und sie wollte die Verbindung zu Melio nicht lösen. Sie entspannte sich, drückte den Daumen gegen den Aalanhänger und schloss die Augen.
Sie bemühte sich, ihre Gedanken zur Ruhe zu bringen. Zunächst wurde sie von grausamen Bildern von dem Gemetzel, von
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