Acacia 01 - Macht und Verrat
herausfordern kannst. Tu es nie wieder in der Öffentlichkeit, auch nicht in Gegenwart meiner Vertrauten.«
Leodan saß auf dem Sims eines der großen Bibliotheksfenster und sann darüber nach, ob sein Vater sein Herz damals hinlänglich verhärtet hatte, um ihn zu dem Mörder zu machen, als der er sich in den kommenden Jahren erwiesen hatte. Er schüttelte den Gedanken ab. Er wusste, er lebte zu oft in der Vergangenheit. Doch besonders an einem solchen Abend, wenn die Luft schwer von Melancholie zu sein schien, gelang es ihm kaum, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.
Obwohl Acacia in einer gemäßigten Klimazone zwischen dem trockenen Buschland Talays und der Eiswüste des Mein lag, war es auch auf der Insel hin und wieder so kalt, dass es schneite.
Für gewöhnlich fiel ein- bis zweimal pro Winter etwas Pulverschnee. Alle vier oder fünf Jahre schneite es richtig. So auch heute, am Abend des Banketts; ein verspäteter Sturm bereitete dem milden Wetter ein Ende. Zunächst waren ein paar vereinzelte Schneeflocken durchs trübe Nachmittagslicht getrudelt. Am frühen Abend hingen die Wolken dann so tief, als wollten sie die höchsten Palasttürme streifen. Sie gaben große, schwere Schneeflocken frei, die schnurgerade zur Erde fielen, als wögen sie schwer, ungeachtet ihrer fragilen Natur.
In der kurzen Ruhepause zwischen den nachmittäglichen Besprechungen und den Vorbereitungen für das Bankett hatte Leodan sich in die Abgeschiedenheit der Bibliothek zurückgezogen. Die Ruhe würde nur von kurzer Dauer sein, und er spürte, dass die Zeit beinahe um war. Er schritt durch den menschenleeren Raum, den Blick zu den vielen tausend Bänden erhoben. Es gab hier ein Buch, das angeblich in der Sprache verfasst war, die der Schöpfer bei der Erschaffung der Welt gebraucht hatte. Immer, wenn er hier allein war, fühlte er sich zu ihm hingezogen.
Er blickte sich um, vergewisserte sich, dass er wirklich allein war, dann nahm er das Buch aus dem Regal. Er fuhr mit dem Finger über den Rücken seines uralten, allein vom Alter gezeichneten Einbandes. Seit seiner Mannbarkeitszeremonie wusste er, wo es stand, denn sein Vater hatte es ihm gezeigt. In diesem Buch, hatte Gridulan gesagt, befinde sich das gesamte Wissen, das die Welt im Innersten zusammenhalte. Verfasst sei es in der Sprache der Schöpfung und der Vernichtung. Darin fänden sich die Werkzeuge, mit deren Hilfe Tinhadin die Bekannte Welt erobert habe. Ein furchtbares Wissen, hatte Gridulan gemeint. Aus diesem Grund habe Tinhadin jeden verbannt, der je darin gelesen habe. Auch seinen Nachkommen habe er die Lektüre verboten, ihnen aber aufgetragen, das Buch zu bewahren. Er habe es vor aller Augen versteckt; diesen Brauch habe man seitdem beibehalten.
Als Heranwachsender hatte Leodan viele Stunden damit zugebracht, sich vorzustellen, er sei im Besitz göttlicher Macht und imstande, Kraft seiner Worte dem Gewebe der Schöpfung eine neue Form zu verleihen. Doch er hatte das Buch niemals aufgeschlagen. Obwohl er an der Wahrheit der Geschichte zweifelte, hatte er sich genug gefürchtet, um den Folianten ungeöffnet zu lassen. Hin und wieder hatte er daran gedacht, den Band aus dem Regal zu ziehen und darin zu blättern oder ihn zu zerreißen, zu verbrennen oder auch nur darüber zu lachen; was er wirklich damit anfangen wollte, wusste er nie genau zu sagen. Doch er hatte den Buchrücken noch nie geknickt und würde es auch jetzt nicht tun. Irgendwann hatte er aufgehört, überhaupt daran zu denken. Hatte aufgehört, an magische Geschichten zu glauben. Schließlich gab es im wahren Leben so wenig Beweise für Magie.
Er berührte den Einband des nächsten Buchs, das von den Zwei Brüdern handelte. Behutsam zog er es hervor und ging zurück zu seiner Nische, denn er hoffte, in dem Buch eine Anregung zu finden, wie er Menas und Dariels Gutenachtgeschichte weiterführen könne. Wie gut, dass er ihnen noch immer Geschichten erzählen konnte; und wie sehr fürchtete er den unausweichlichen Moment, da sie ihm entgleiten, die Spiele der Kindheit hinter sich lassen und sich in die Gemeinschaft der Gleichaltrigen drängen würden. Ein Teil von ihm wünschte sich die Kinder sicher und glücklich in seiner Nähe, zufrieden mit den einfachsten Dingen, Überbleibsel der Liebe zu seiner verstorbenen Gemahlin, denen er weiter beim Heranwachsen zuschauen könne.
Gleichzeitig jedoch wünschte er sich auch, sie möchten in die weite Welt hinaustreten und die Bande der Freundschaft
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