Schattenmenagerie
Kapitel 1: Auf dem Gipfel
»Verdammtes Schuhwerk! Ewig gehen diese blöden Schnürsenkel auf. Und
jetzt auch noch Blasen an den Fersen. Vielleicht sollte ich mir mal ein Paar richtige
Wanderschuhe leisten.«
Inspektor Michael Kroll zog sich
vorsichtig seine alten Turnschuhe aus und warf sie laut fluchend gegen den nächstbesten
Felsen. Dann folgten die durchweichten Socken. Gott sei Dank hatte er sich vor der
Wanderung noch eine Tube Wundcreme eingesteckt, die jetzt rettende Dienste tat.
Dann zog er sich Socken und Schuhe wieder an und setzte seinen Weg zum nahen Ziel
fort.
Der Kriminalbeamte hatte sich den
Urlaub redlich verdient. Jedenfalls war er selbst davon zutiefst überzeugt. Ob das
seine Vorgesetzten und die Ganoven der Lübecker Unterwelt auch so sahen, kümmerte
ihn momentan nicht.
Er hatte in diesen Osterferien seine
Nichte Micha mitgenommen, damit deren Eltern auch mal etwas Ruhe vergönnt war. Die
Siebtklässlerin interessierte sich jedoch nicht für seine Wanderungen. Sie lag lieber
krimilesend auf dem Liegestuhl am Swimmingpool oder strolchte durch die Boutiquen
im nahegelegenen Peguera. Kroll war kein Freund dieser Orte, also gingen beide arbeitsteilig
vor. Er Natur, sie Kultur. Seine Aufsichtspflicht übte er dann per Handy aus. Abends
trafen sie sich wieder und erzählten sich auf der Terrasse im matt glühenden Licht
des Sonnenuntergangs die Erlebnisse des Tages.
Die kleine Wanderung auf den Gipfelfelsen
hatte er schon öfter unternommen. Er liebte diese abgelegene und waldreiche Gegend,
in die sich nur selten Touristen verirrten, obwohl die Route in einigen Wanderbüchern
beschrieben wird. Von Andratx aus führte eine enge Passstraße über Capdella hoch
zu dem kleinen, an steilen Felsen klebenden Dorf Galilea. Unterhalb des Ortes ging
es noch einen Kilometer weiter in Richtung Puigpuyent, wo man in einer schmalen
Kurve vor einem abgezäunten Wirtschaftsweg parken konnte.
Merkwürdig. Heute stand dort bereits
ein anderer Mietwagen. Und gerade noch konnte Kroll beobachten, wie ein weiteres
Fahrzeug den engen Parkplatz verließ und in Richtung Nordosten verschwand. Ein gelber
Ford Focus mit einem Aufkleber von einem Autoverleiher. Mit seinem kriminalistischen
siebten Sinn merkte sich der Inspektor das Kennzeichen und die Uhrzeit. Er fand
diese Anhäufung von Mietwagen ungewöhnlich. So viele Wanderer an einem Wochentag
im April, also nicht gerade zur Hochsaison?
»Nun gut, vielleicht treffen wir
uns ja. Offenbar handelt es sich um Gleichgesinnte. Da ergibt sich bestimmt die
Gelegenheit zu einem Schwätzchen.«
Die Route war hier so eindeutig,
dass man eigentlich nicht aneinander vorbeigehen konnte. Der letzte Teil der Wanderung
erwies sich als etwas anstrengend. Kroll musste einen unwirtlichen, steilen und
nur spärlich markierten Pfad über Geröll und Felsen hinaufklettern. Wenn man nicht
aufpasste, konnte man leicht abrutschen. Dennoch gelangte er zum Gipfel, ohne jemandem
zu begegnen. Aber mit seiner ausgeprägten Kriminalistennase spürte er, dass er hier
nicht der Einzige war.
Oben angelangt, streifte er sich
den Rucksack von den Schultern und machte es sich auf einem breiten Felsvorsprung
gemütlich. Wieder entledigte er sich seiner Schuhe, denn seine Füße schmerzten noch.
Dann öffnete er seinen Rucksack. Wie immer hatte er selbst geschmierte Stullen sowie
zwei Plastikflaschen dabei, eine mit Mineralwasser und eine, die er in seinem apartamento
in Camp de Mar mit vino tinto gefüllt hatte. Natürlich durfte auch nicht die kleine
Isomatte fehlen, schließlich bekommt man es als Ü 50 schnell im Rücken, wenn man
längere Zeit auf einem kalten Stein sitzt. Auch ein Weinglas zauberte er aus dem
Rucksack. Genüsslich mischte er sich eine Weinschorle und biss in seine Stulle.
»Wird Zeit, dass die Spanier lernen,
vernünftiges Brot herzustellen!«, murmelte er leise vor sich hin. Die ›Stulle‹ war
nichts weiter als die übliche längliche barra de pan, ein brötchenartiges Weißbrot,
das ihn eher an ein überdimensionales Kaugummi als an ein Brot erinnerte. Trotzdem
fühlte er sich hier oben vollends glücklich. Denn eigentlich gehörte für ihn dieses
fade spanische Brot zum Urlaub dazu. Hinten am Horizont erahnte er die Umrisse der
Insel Sa Dragonera, deren Erkundung er sich für die morgige Wanderung vorgenommen
hatte. Er entdeckte sogar ein Segelboot, das sich langsam an der Insel vorbeischob.
»Der wird sich
beeilen müssen, wenn er heute noch Port de Sóller erreichen
Weitere Kostenlose Bücher