Accelerando
Allerdings kommen
ständig so viele Neue an, dass sich die Mischung
verwässert. Und da diese Neuen überhaupt nichts vom Small-World-Network der gemeinsamen Bekannten und kurzen Wege
wissen, kann sich alles schon nach wenigen Megasekunden neu
aufmischen. Dabei entstehen auch neue Netzwerke, von denen wir gar
nichts mitbekommen, bis sie mitten unter uns mit politischen Vorhaben
auftauchen. Wir handeln unter Zeitdruck. Wenn wir die Dinge jetzt
nicht ins Rollen bringen, dann werden wir’s nie
schaffen…« Er schüttelt den Kopf. »In
Brüssel hast du’s anders erlebt, stimmt’s?«
»Ja. In Brüssel ’errschte ein ausgereiftes System.
Und nach deinem Aufbruch musste ich mich ja auch um Gianni
kümmern, der allmählich senil wurde. Und ’ier wird es
nur schlimmer und schlimmer werden, fürchte ich.«
»Die Version 2.0 der Demokratie.« Ihm fährt ein
Schauer über den Rücken. »Ich bin mir nicht
darüber im Klaren, ob solche Wahlvorhaben heutzutage
überhaupt noch ihre Berechtigung haben. Die Annahme, dass alle
Menschen gleich wichtig sind, scheint mir entsetzlich altmodisch.
Glaubst du, dass wir die Sache durchziehen können?«
»Ich sehe nicht, was dagegen spricht. Falls Amber bereit ist,
für uns die volksnahe Prinzessin zu spielen…« Annette
greift nach einer Scheibe Leberwurst und kaut gedankenverloren darauf
herum.
»Ich bin mir nicht sicher, ob es funktionieren kann, egal wie
wir’s angehen«, bemerkt Manfred nachdenklich. »Unter
den gegebenen Umständen scheint mir diese ganze Geschichte
demokratischer Mitbestimmung fragwürdig. Wir werden unmittelbar
bedroht, wenn auch nur auf längere Sicht. Und diese ganze
Zivilisation ist in Gefahr, sich in einen klassischen Nationalstaat
zu verwandeln. Oder, und das wäre noch schlimmer, in mehrere
voneinander abgetrennte Nationalstaaten, die in geografischer
Hinsicht überaus nahe beieinander liegen, aber in sozialer
Hinsicht überhaupt nicht interagieren. Ich habe meine Zweifel
daran, ob es wirklich eine so gute Idee ist, dergleichen steuern zu
wollen. Immerhin könnten Teile des Kuchens herausbrechen, und
das hätte höchst unangenehme Nebenwirkungen. Anders sieht
die Sache aus, wenn wir so breite Unterstützung mobilisieren
könnten, dass unser Gemeinwesen sich als erste Gemeinschaft
offenbart, die einen ganzen Planeten umfasst…«
»Du musst dich unbedingt auf diese eine Sache konzentrieren,
wir brauchen dich dazu«, wirft Annette unvermittelt ein.
»Konzentrieren? Ich?« Er lacht auf. »Früher hatte ich jede Sekunde eine neue Idee, jetzt vielleicht noch eine
pro Jahr. Ich bin doch nur noch ein melancholisches altes
Spatzengehirn.«
»Ja, aber du kennst doch die alte Geschichte vom ’asen
und vom Igel? Der ’ase ’at viele Ideen und der Igel nur
eine einzige, aber das ist eine tolle Idee.«
»Also sag mir, worin soll meine tolle Idee bestehen?«
Manfred beugt sich vor. Einen Ellbogen hat er auf den Tisch
gestützt, ein Auge auf den inneren Raum konzentriert, wo ihn ein
Bewusstseinsstrom mit brandaktuellen Einschätzungen des
Wählerverhaltens und einer Analyse der bevorstehenden Wahl
eindeckt. »Was hab ich denn deiner Meinung nach vor?«
»Ich glaube…« Annette bricht mitten im Satz ab und
blickt über Manfreds Schulter. Die Privatsphäre wird
aufgehoben. Manfred erstarrt einen Moment, blickt sich leicht
entsetzt um und bemerkt dreißig oder vierzig weitere Gäste
in dem überfüllten Biergarten, die Ellbogen an Ellbogen
nebeneinander sitzen und laut brüllen, um das Geschnatter im
Hintergrund zu übertönen. »Gianni!« Als Annette
aufsteht, strahlt sie übers ganze Gesicht. »Welche
Überraschung! Wann bist du angekommen?«
Manfred reißt ungläubig die Augen auf. Vor sich sieht
er einen schlanken jungen Mann, der sich voll jugendlicher Anmut
bewegt, ohne (wie es in diesem Alter oft vorkommt) plötzlich
unbeholfen oder in schlechter Haltung dazustehen; in Wirklichkeit ist
er viel älter, als er aussieht – ein Wolf im Schafspelz,
dank der Genetik.
Gianni? Manfred spürt, wie eine gewaltige Welle von
Erinnerungen seinen Exocortex überrollt. Er erinnert sich daran,
wie er im staubigen, heißen Rom an einer Tür geklingelt
hat, erinnert sich an einen weißen Frotteebademantel, an das
Wirtschaftssystem der knappen Mittel, an ein Buch, das der
längst verstorbene von Neumann einst persönlich signiert
hat. »Gianni?«, fragt er ungläubig. »Ist schon
lange her!«
Der Goldjunge, der das Image eines großstädtischen
Playboys aus den
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