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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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begegnet sind, jedenfalls nicht von Angesicht
zu Angesicht und in menschlichen Körpern aus Fleisch und Blut.
Schließlich wurde Amber erst Jahre nach der Trennung von
Manfred und Pamela geboren, denn sie ist das Produkt einer
Befruchtung, das sich in einem mit flüssigem Stickstoff
gefüllten Brutkasten entwickelt hat. Es ist das erste Mal, dass
einer dem anderen tatsächlich ins Gesicht blickt, ohne
elektronische Vermittlung. Zwar haben sie sich auf
geschäftsmäßiger Ebene miteinander verständigt
und einander alles Nötige mitgeteilt, aber die Familienpolitik
der Anthropoiden ist immer noch stark an Körpersprache und
Pheromone gebunden. »Wie lange bist du schon in der
Gegend?«, fragt sie, um ihre Verwirrung zu überspielen.
    »Rund sechs Stunden.« Manfred rafft sich zu einem recht
hilflosen Lachen auf und versucht dabei gleichzeitig, Ambers gesamtes
Erscheinungsbild in sich aufzunehmen. »Komm, wir besorgen uns
noch etwas zu trinken, und dann stecken wir die Köpfe zusammen,
ja?«
    »Okay.« Amber holt tief Luft und wirft Annette einen
wütenden Blick zu. »Du hast das hier arrangiert, also
kannst du den Schlamassel auch beseitigen.«
    Annette bleibt einfach stehen und lächelt darüber,
welche Verwirrung sie mit ihrem Arrangement gestiftet hat.
     

     
    Das kalte Licht der Morgendämmerung fällt auf einen
Sirhan, der wütend, nüchtern und willens ist, mit der
ersten Person, die sein Büro betritt, einen Streit vom Zaun zu
brechen. Der rund zehn Meter breite Raum hat einen Fußboden aus
geschliffenem Marmor und eine reichlich verzierte Stuckdecke, in die
Oberlichter eingelassen sind. Der gegenwärtige Stand seiner
Archivierung, eine holografische Projektion, sprießt wie ein
gespenstischer, virtueller Blumenkohl aus der Mitte des
Fußbodens, wobei die Fraktale sich nach unten hin zu
umhüllten Knötchen verjüngen, die mit komprimierten
Kennzeichen versehen sind. Während Sirhan die Projektion mit
großen Schritten umkreist, dehnen sich die Fraktale aus und
schrumpfen wieder zusammen: Sie reagieren auf die Bewegungen seiner
Augäpfel und zoomen lesbare Ausschnitte heran. Aber er achtet
kaum darauf, denn er ist viel zu durcheinander, verunsichert und
damit beschäftigt, einen Schuldigen für sein Dilemma
auszumachen.
    Deshalb fährt er als Erstes wütend herum und reißt
den Mund auf, als die Tür krachend aufgeht, doch gleich darauf
beherrscht er sich. »Was willst du denn hier?«
    »Ein Wörtchen mit dir reden, wenn ich darf?«
Annette sieht sich zerstreut um. »Ist das da dein
Projekt?«
    »Ja«, erwidert er eisig, schwenkt die Hand und verbannt
damit das vorläufige Ergebnis seiner Bemühungen aus dem
Zimmer. »Was willst du hier?«
    »Weiß ich auch nicht genau.« Annette stockt. Einen
Augenblick lang wirkt sie erschöpft und unsäglich
müde, sodass Sirhan sich plötzlich fragt, ob er in den
Schuldzuweisungen zu weit geht. Vermutlich ist diese über
neunzigjährige Französin (keine Blutsverwandte, früher
die große Liebe seines wirrköpfigen Großvaters) die
Person, der am wenigsten zuzutrauen ist, dass sie ihn zu manipulieren
versucht. Zumindest nicht auf so unangenehme, die Privatsphäre
verletzende Weise. Doch wer weiß: Familien sind seltsame
Gebilde. Und selbst wenn die gegenwärtigen Verkörperungen
seiner Eltern nicht identisch mit denen sind, die sein
vorpubertäres Hirn, noch ehe er zehn Jahre alt war, durch
Dutzende von Lebenslinien geschleust haben, kann er ihnen nicht
richtig trauen. Und er kann auch nicht ausschließen, dass sie
Tante Annettes Hilfe dafür in Anspruch genommen haben, in seinem
Schädel herumzupfuschen.
    »Wir müssen uns über deine Mutter
unter’alten«, fährt Annette fort.
    »Ach ja?« Als Sirhan sich umdreht, fällt ihm die
Leere auf. Zum ersten Mal sieht er das Zimmer so, wie es wirklich
ist: eine leere Fassung, leer wie eine Zahnhöhle, die durch das,
was hier fehlt, genauso viel über ihren Benutzer verrät wie
durch das, was präsent ist. Er schnippt mit den Fingern. Sofort
sammelt sich in der Luft hinter ihm eine kompliziert zusammengesetzte
Nebelbank – durchsichtiger bläulicher Utility Fog, der zu
einem Stuhl erstarrt, auf dem Sirhan Platz nimmt. Was Annette tut,
ist ihm egal.
    »Oui.« Sie vergräbt die Hände in den
Taschen ihres Bauernkittels (der überhaupt nicht ihrem normalen
Kleidungsstil entspricht) und lehnt sich gegen die Wand.
Körperlich wirkt sie so jung, als wäre sie ihr
ganzes Leben lang mit einem Drittel Lichtgeschwindigkeit durch

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