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Accelerando

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Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Anfangsjahren des dritten Jahrtausends
verkörpert, grinst breit und umarmt Manfred herzlich und heftig.
Danach lässt er sich auf die Bank fallen, nimmt neben Annette
Platz und küsst sie mit der Unbefangenheit alter Vertrautheit.
»Ach, wie schön, wieder unter Freunden zu sein! Ist schon
viel zu lange her!« Neugierig blickt er sich um. »Hm, wirkt
ja alles sehr bayrisch.« Er schnippt mit den Fingern. »Ich
möchte… Was kannst du empfehlen? Hab schon ewig lange kein
Bier mehr getrunken.« Er grinst noch breiter. »Zumindest
nicht in diesem Körper.«
    »Hat man dich rekonstruiert und simuliert?«, fragt
Manfred, der seine Neugier nicht zügeln kann.
    Annette wirft ihm vorwurfsvoll einen finsteren Blick zu.
»Nein, du Blödmann! Er ist durch das Teleportationstor
gekommen…«
    »Oh.« Manfred schüttelt den Kopf.
»Entschuldigung…«
    »Ist schon in Ordnung.« Es macht Gianni Vittoria
eindeutig nichts aus, fälschlich für eine rekonstruierte
historische Persönlichkeit gehalten zu werden, obwohl er auf die
harte Tour durch die Jahrzehnte gereist ist. Inzwischen muss er mehr
als hundert Jahre alt sein, wie Manfred plötzlich durch den Kopf
geht. Allerdings macht er sich nicht die Mühe, einen Suchagenten
auszuschicken, um Giannis genaues Alter herauszufinden.
    »War an der Zeit umzuziehen und, nun ja, der alte Körper
wollte das nicht mehr mitmachen. Was also hätte dagegen sprechen
sollen, einen würdevollen Abgang zu machen und sich in das
Unvermeidliche zu fügen?«
    »Ich hab dich nie für einen Dualisten gehalten«,
erklärt Manfred reumütig.
    »Ach, ich bin ja auch keiner – allerdings bin ich auch
nicht tollkühn.« Giannis Grinsen schwindet. Der zeitweilige
Minister für transhumane Angelegenheiten, der
Wirtschaftstheoretiker und spätere Stammesfürst der
polykognitiven Liberalen im Ruhestand wird ernst. »Vorher hatte
ich mich noch nie heraufgeladen, auch keinen anderen Körper
angenommen oder eine Teleportation mitgemacht. Selbst damals nicht,
als mein alter Körper… ernsthafte Macken zeigte. Vielleicht
hab ich zu lange damit gewartet. Aber jetzt bin ich hier. Wenn man
geklont und heruntergeladen wird, ist ein Planet so gut wie der
andere, oder?«
    »Hast du ihn eingeladen?«, fragt Manfred Annette.
    »Warum ’ätte ich das nicht tun sollen?« Ihre
Augen funkeln verschmitzt. »’ast du von mir erwartet, dass
ich wie eine Nonne lebe, während du als Taubenschar
’erumflatterst? Mag zwar sein, dass wir dagegen ins Feld gezogen
sind, die Trans’umanen für tot zu erklären, Manfred,
aber alles ’at seine Grenzen.«
    Manfred lässt den Blick vom einen zum anderen schweifen und
zuckt gleich darauf verlegen die Achseln. »Ich muss mich immer
noch daran gewöhnen, wieder ein Mensch zu sein«, räumt
er ein. »Könnt ihr mir ein bisschen Zeit lassen? Zumindest
für die emotionale Ebene?« Dass Gianni und Annette etwas
miteinander hatten, überrascht ihn nicht sonderlich.
Schließlich gehört so etwas zu den Dingen, die man in Kauf
nehmen muss, wenn man die menschliche Spezies freiwillig
verlässt. Wenigstens hilft ihm in dieser Hinsicht die
Unterdrückung der Libido, wie er jetzt merkt. Und er hat nicht
vor, jemanden dadurch in Verlegenheit zu bringen, dass er eine
Ménage à trois vorschlägt. Also widmet er sich
Gianni. »Ich habe das Gefühl, zu einem bestimmten Zweck
hier zu sein. Allerdings zu einem Zweck, den ich mir nicht selbst
ausgedacht habe«, bemerkt er bedächtig. »Warum
erzählst du mir nicht, was dir vorschwebt?«
    Gianni zuckt die Achseln. »Im Großen und Ganzen
weißt du ja schon, worum es geht. Wir sind Menschen,
Metamenschen und künstlich verstärkte Menschen. Aber die
Posthumanen sind Geschöpfe, die von Anfang an nichts wirklich
Menschliches an sich hatten. Und der missratene Nachwuchs hat
jetzt die Pubertät erreicht und möchte eine sturmfreie
Bude, damit er eine Party schmeißen kann. Das zeichnet sich
doch schon deutlich genug ab, oder bist du anderer Meinung?«
    Manfred sieht ihn lange an. »Die ganze Idee, im Meatspace, in
unseren Körpern davonzulaufen, hat etwas überaus
Gefährliches«, sagt er bedächtig, greift nach seinem
Bierglas und schwenkt es langsam hin und her. »Sieh mal,
inzwischen wissen wir doch, dass sich eine Singularität nicht
einfach so in ein unersättliches Raubtier verwandelt, das alle
unintelligente Materie entlang des Wegs verschlingt und damit eine
Phasenverschiebung in der Raumstruktur auslöst – es sei
denn, der missratene Nachwuchs hat

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