Accelerando
Körper gewöhnt hat. Und das kann
noch dauern. Nicht nur, dass ihm der Schmerz in den Hals
schießt, sobald er mit dem rechten Auge über die linke
Schulter zu blicken versucht, er tut sich auch schwer damit, Agenten
des Exocortex zu erzeugen und auszuschicken, damit sie Datenbanken
oder fraktal vernetzte Roboter und Ähnliches ausfragen und ihm
die Ergebnisse übermitteln. Stattdessen versucht er immer
wieder, gleichzeitig in alle Richtungen davonzufliegen, was meistens
damit endet, dass er abstürzt.
Doch das macht ihm im Augenblick nicht zu schaffen. Er sitzt
gemütlich an einem verwitterten Holztisch in einem Biergarten.
Die dazu gehörige Kneipe stammt aus irgendeiner deutschen Stadt,
möglicherweise Frankfurt. Neben seinem Ellbogen steht ein
Literglas voll strohfarbener Flüssigkeit, und in seinem
Hinterkopf spürt er das ebenso beruhigende wie anregende Raunen
zahlreicher Informationsströme. Doch vor allem gilt seine
Aufmerksamkeit Annette, die ihn voller Sorge und Zuneigung ansieht
und dabei die Stirn runzelt. Auch wenn sie fast ein Drittel
Jahrhundert getrennte Wege gegangen sind, da Annette sich nicht
gemeinsam mit ihm heraufladen lassen wollte, fühlt er sich
innerlich immer noch tief mit ihr verbunden.
»In der Sache mit dem Jungen wirst du irgendwas unternehmen
müssen«, sagt sie voller Anteilnahme. »Er ist nahe
dran, Amber aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und ohne Amber wird es
schwierig.«
»Ich werde auch etwas in der Sache mit Amber unternehmen
müssen«, gibt Manfred zurück. »Was hast du dir
eigentlich dabei gedacht, ihr meine Ankunft nicht
anzukündigen?«
»Es sollte eine Überraschung werden.« Annette zieht
eine Grimasse, die so sehr einer beleidigten Schnute ähnelt,
dass Manfred hingerissen ist, denn so hat er sie in jüngster
Zeit noch nicht erlebt. Ihr Schmollmund weckt so liebevolle
Erinnerungen, dass er über den Tisch langt und nach ihrer Hand
greift.
»Du weißt doch, dass ich die höflichen
Umgangsformen der Menschen nicht mehr richtig beherrsche, nachdem ich
die ganzen Jahre als Vogelschar herumgeflogen bin.« Er
streichelt ihr Handgelenk, das sie nach einer Weile zurückzieht,
allerdings lässt sie sich Zeit damit. »Ich dachte, du
würdest diese Dinge schon entsprechend vorbereiten.«
»Diese Dinge.« Annette schüttelt den Kopf.
»Sie ist deine Tochter, erinnerst du dich? Warst du denn
über’aupt nicht neugierig auf sie?«
»Als Vogel?« Manfred legt den Kopf so plötzlich
schräg, dass sein Hals zu schmerzen beginnt und er
zusammenzuckt. »Nee, wirklich nicht. Jetzt bin
ich’s, aber ich hab sie, glaube ich, vor den Kopf
gestoßen…«
»Was uns zum ersten Punkt zurückfuhrt.«
»Ich würde mich ja bei ihr entschuldigen, aber dann
würde sie annehmen, ich wollte sie manipulieren…«,
Manfred nimmt einen Schluck Bier, »… und damit hätte
sie sogar Recht.« Er klingt leicht deprimiert. »In diesem
Jahrzehnt sind all meine Beziehungen völlig vermurkst. Und das
macht mich zu einem einsamen Menschen.«
»Na und? Lass das Grübeln.« Annette zieht die Hand
jetzt ganz zurück. »Irgendwas wird sich mit der Zeit schon
ergeben. Und auf kurze Sicht ’alt dich die Arbeit über
Wasser. Das Problem mit der Wahl brennt uns auf den
Nägeln.« In Manfreds Gegenwart ist von ihrem früher
starken französischen Akzent fast nichts mehr zu merken,
stattdessen spricht sie ein gedehntes amerikanisch eingefärbtes
Englisch, wie ihm schlagartig aufgeht. Er hat allzu lange in
nichtmenschlicher Form existiert. So lange, dass die Menschen, die
ihm einst so viel bedeuteten, sich während seiner Abwesenheit
verändert haben.
»Ich grüble aber, wenn mir danach ist. Zum Beispiel
hatte ich nie richtig Gelegenheit, von Pam Abschied zu nehmen, nicht
wahr? Seit damals in Paris, als diese Gangster…« Er zuckt
die Achseln. »Mit dem Alter werde ich nostalgisch.« Er
schnaubt verächtlich.
»Da bist du nicht der Einzige«, sagt Annette taktvoll.
»Die gesellschaftlichen Veranstaltungen ’ier sind ein
einziges Minenfeld, viele Themen muss man sorgfältig vermeiden.
Die Leute ’aben zu viel, zu viel Geschichte ’inter
sich. Und niemand ’at den Gesamtüberblick über das,
was derzeit vor sich geht.«
»Das ist das Problem mit diesem verfluchten
Gemeinwesen.« Manfred nimmt noch einen Schluck Hefeweizen.
»Auf diesem Planeten leben jetzt schon sechs Millionen Menschen,
und er wächst so schnell wie das Internet der ersten Generation.
Jeder, der irgendwas darstellt, kennt jeden.
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