Accelerando
ich’s sehe.«
»Was bleibt dann noch?«, will Annette wissen. »Wenn
du sowohl das Programm der Accelerationistas als auch das der Aus’arrer ablehnst, ist das ja schön und gut, Manny,
aber was kannst du stattdessen anbieten?« Sie wirkt
niedergeschlagen. »Vor fünfzig Jahren ’ättest du
schon vor dem Frühstück sechs neue Ideen ge’abt. Samt
einer Erektion.«
Manfred grinst sie anzüglich an, allerdings wirkt es nicht
sonderlich überzeugend. »Wer sagt denn, dass ich das nicht
mehr bringen kann? Das eine wie das andere…«
Sie starrt ihn wütend an. »Lassen wir das
Thema!«
»Okay.« Manfred stürzt einen Viertelliter Bier
hinunter, leert das Glas und stellt es mit lautem Knall auf dem Tisch
ab. »Zufällig hab ich nämlich eine alternative
Idee.« Sein Gesicht wird ernst. »Ich diskutiere sie schon
seit einiger Zeit mit Aineko, und Aineko hat Sirhan damit geimpft.
Wenn sie richtig funktionieren soll, muss ein Rumpfparlament an Bord
sein, das sowohl aus den Accelerationistas als auch aus den
Konservativen besteht. Und das ist auch der Grund dafür, dass
ich trotz gewisser Vorbehalte bei diesem ganzen Wahlquatsch mitmache.
Also, was gebt ihr mir, wenn ich’s euch erkläre?«
»Wer war denn dieser Blindgänger, mit dem du dich heute
befasst hast?«, fragt Amber.
Rita zuckt die Achseln. »Irgend so ein Langweiler, der in den
frühen Zwanzigerjahren weitschweifige Schundgeschichten verfasst
hat. Hat eine Körperphobie von extroprianischen Ausmaßen.
Ich hatte ständig das Gefühl, er könnte anfangen zu
sabbern und die Augen zu verdrehen, sobald ich die Beine
übereinander schlage. Seltsam ist nur, dass er auch noch fast
ausgerastet wäre, als ich die Implantate erwähnte. Wir
müssen wirklich festlegen, wie wir mit diesen
Körper/Geist-Dualisten verfahren wollen, meinst du nicht
auch?« Rita beobachtet Amber mit einem Gefühl, das an
Ehrfurcht grenzt. Erst seit kurzem gehört sie dem inneren Zirkel
der Studiengruppe der Accelerationista an, und Amber ist
einsame Spitze, was ihr gesellschaftliches Ansehen betrifft. Rita
weiß, dass sie viel von ihr lernen kann, falls sie nahe genug
an sie herankommt. Und dazu scheint ihr diese Gelegenheit – sie
spaziert mit Amber durch den schön gestalteten Museumsgarten
– bestens geeignet.
Amber lächelt. »Ich bin froh, dass ich derzeit keine
Immigranten einweisen muss. Die meisten sind so stupide, dass man
nach einer Weile die Wände hochgehen könnte. Ich
persönlich mache ja den Flynn-Effekt, den IQ-Zuwachs aufgrund
neuer Kenntnisse, dafür verantwortlich – nur dass es hier
in die umgekehrte Richtung geht. Diese Leute sind von einem
Hintergrund sensorischer Deprivation geprägt. Nichts, was ein
Schub von Verstärkern neuronalen Wachstums nicht in ein, zwei
Jahren reparieren könnte. Aber wenn man erst einmal einigen von
ihnen ins Gehirn gepfuscht hat, kommt einem einer wie der andere vor.
So langweilig. Es sei denn, man hat das Pech, an eine
Aufzeichnung aus einer Epoche des religiösen Puritanismus zu
geraten. Ich bin ja keine verbiesterte Emanze, aber ich schwör
dir, wenn mir noch einmal ein abergläubischer, Frauen hassender
Geistlicher unterkommt, überlege ich mir, ob ich ihn nicht zu
einer Geschlechtsumwandlung verdonnere. Wenigstens sind die
Engländer aus der viktorianischen Zeit größtenteils
nur vorurteilsfreie Lustmolche, sobald man ihre soziale
Reserviertheit durchbrechen kann. Und sie halten viel von neuen
technologischen Entwicklungen.«
Rita nickt. Frauenhasser et cetera… Offenbar sind auch
heute noch Reste des Patriarchats ringsum präsent, und nicht nur
in Form rekonstruierter, simulierter Ayatollahs und Erzbischöfe
aus dem Mittelalter. »Mein Autor klingt so, als verkörpere
er das Schlimmste beider Richtungen. Es ist irgendein Kerl namens
Howard aus Rhode Island. Sah mich ständig so an, als hätte
er Angst, ich könnte mir gleich Fledermausflügel und
Tentakel oder etwas in der Art wachsen lassen.« Genau wie
dein Sohn, verkneift sie sich zu sagen. Was hat er sich
überhaupt dabei gedacht?, fragt sie sich. Sich
dermaßen durchgeknallt zu verhalten, setzt schon ernsthafte
Anstrengungen voraus… »Woran arbeitest du gerade, wenn
ich fragen darf?«, fährt sie fort, um sich selbst zu einem
Themenwechsel zu zwingen.
»Ach, daran, den Leuten auf die Pelle zu rücken,
schätze ich. Tante Nette wollte, dass ich mich mit irgendeinem
alten politischen Strippenzieher treffe, den sie von früher her
kennt. Sie glaubt, dass er uns
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