Accelerando
Armbanduhr inzwischen
knallrot ist und blinkt. »’ör zu, ich gebe dir
zwei’undert Euro für die Brille und die Gürteltasche,
in bar, und ich frage weder, woher du sie ’ast, noch werde ich
jemandem davon erzählen.«
Wie hypnotisiert steht er stocksteif vor ihr. Sie sieht, wie das
Licht vom Inneren der Brille nach außen dringt und sich
über die Wangenknochen des ausgezehrten jugendlichen Gesichts
ergießt – als flackere ein kalter Blitz auf. Oder als
hätte er sein Gehirn direkt ans Stromnetz angeschlossen. Ihr
Mund ist plötzlich trocken. Sie schluckt, greift langsam nach
oben, zieht ihm mit einer Hand die Brille von den Augen und langt mit
der anderen nach der Gürteltasche. Während der Junge
zusammenfährt und ungläubig zwinkert, hält sie ihm
zwei Hunderteuroscheine vor die Nase. »’au ab!«, sagt
sie keineswegs unfreundlich.
Langsam greift er nach oben, schnappt sich das Geld und rennt
davon – stürmt mit ohrenbetäubendem Lärm durch
die Tür, biegt nach links ab, auf den Radweg, eilt den
Hügel hinunter und verschwindet in Richtung der
Parlamentsgebäude und des Universitätskomplexes.
Voll böser Vorahnungen beobachtet Annette die Tür.
»Wo steckt er nur?«, zischt sie beunruhigt.
»Fällt dir dazu was ein, Katze?«
»Nee, ist doch dein Job, ihn zu finden«, bemerkt Aineko
selbstzufrieden. Annette läuft ein eiskalter Schauer über
den Rücken, sie macht sich jetzt wirklich Sorgen. Wenn Manfred
den Zugang zu seinem Zwischenspeicher verloren hat, wo kann er dann
stecken? Noch schlimmer: Was ist von seiner Persönlichkeit dann
überhaupt noch übrig?
»Du kannst mich gleichfalls«, murmelt sie in Ainekos
Richtung. »Da bleibt mir nur eins, schätze ich.« Sie
nimmt die eigene Brille ab (sie ist längst nicht so funktional
wie Manfreds maßgeschneidertes Modell, das mit allem
möglichen technologischen Schnickschnack ausgestattet ist) und
hebt die zurückeroberte Brille nervös an die Augen.
Irgendwie kommt sie sich bei dem, was sie gleich tun wird, so dreckig
vor, als schnüffle sie in den E-Mail-Ordnern eines Geliebten
herum. Aber wie sonst soll sie herausfinden, wo Manfred abgeblieben
ist?
Also setzt sie die Brille auf und versucht sich ins
Gedächtnis zu rufen, was sie gestern in Edinburgh getrieben
hat.
»Gianni?«
»Oui, ma chérie?«
Pause. »Ich ’ab ihn verloren. Allerdings ’ab
ich seine aidé-mémoire zurückbekommen. Ein
junger Schnorrer ’at damit Cyberpunk gespielt. Aber ich ’ab
keine Ahnung, wo er ist, deshalb ’ab ich seine Brille
aufgesetzt.«
Pause. »O je.«
»Gianni, warum genau ’ast du ihn zum Franklin-Kollektiv
geschickt?«
Pause. (Inzwischen dringt die Kälte der
Sandsteinmauer, an der sie lehnt, bereits durch den Jackenstoff.)
»Will dich nicht mit trivialen Dingen belasten.«
»Merde. Es geht ’ier nicht um triviale Dinge,
Gianni. Die sind Accelerationistas. Kannst du dir
über’aupt vorstellen, was das mit seinem Kopf anstellen
wird?«
Pause. Dann ein Stöhnen, fast so, als hätte
Gianni Schmerzen. »Ja, kann ich.«
»Warum ’ast du ihn dann dort ’ingeschickt?«,
fragt sie unwirsch, kauert sich hin und rattert solche Wortsalven ins
Telefon, dass einige Passanten einen Bogen um sie schlagen, weil sie
nicht wissen, ob Annette eine Freisprechanlage benutzt oder
halluziniert. »Scheiße, Gianni, jedes Mal, wenn du so
etwas machst, kann ich die Scherben wieder auflesen! Manfred ist kein
gesunder Mann, er bewegt sich ständig am Rande eines akuten
Zukunftsschocks. Als ich dir im letzten Februar gesagt ’abe, er
müsse einen Monat in die Klinik, wenn du ihn weiter so
rannimmst, war das mein voller Ernst! Falls du nicht aufpasst,
könnte es passieren, dass er irgendwann völlig aussteigt
und sich dem Borganismus anschließt…«
»Annette.« Ein tiefer Seufzer. »Er ist das beste
Pferd im Stall, auf das wir setzen können. Weiß doch
selbst, dass die Halbwertzeit von agalmischen Katalysatoren nur noch
bei sechs Monaten liegt und weiter sinkt. Manny hat die normalen
Halbwertzeiten in dieser Branche weit überdauert, hat sie um das
Vierfache überschritten, ja, das wissen wir. Aber ich muss den
toten Punkt in der Bürgerrechtsdiskussion jetzt überwinden, bei dieser Wahl. Wir müssen einen Konsens
erzielen. Und Manfred ist der Einzige in unserem Team, von dem wir
erwarten können, dass er mit dem Franklin-Kollektiv in einer
Sprache kommuniziert, die diese Leute verstehen. Er ist ein Kurier,
der einen Handel vorzuschlagen hat, und keine
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