Accelerando
ein
Satansbraten, der vorübergehend die Form einer Stola angenommen
hat – baumelt, wie man es nur allzu gut von ihr kennt, von
Annettes linker Schulter herunter und schwatzt ihr fortwährend
ins Ohr; es klingt wie ein durch Handyverbindung verzerrter
Wortschwall.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«,
stöhnt Annette genervt. Dieser Platz ist eine einzige
Touristenfalle, eine üppig wuchernde, Fleisch fressende Pflanze,
die sich von Leichtgläubigkeit nährt, Ausländer
aussaugt und als leere Hüllen wieder ausspuckt. Die Straße
hat man in eine Fußgängerzone verwandelt und mit
mittelalterlichem Kopfsteinpflaster versehen, das so schmutzig ist,
dass es authentisch wirkt. In der Mitte, wo früher der Parkplatz
lag, befindet sich jetzt ein stets belebter Antiquitätenmarkt.
Hier kann man alles kaufen – vom Funkenschutz aus Messing
für Kamine bis zum uralten CD-Player. Viele der Waren, die an
den Verkaufsständen ausliegen, sind über Internet
verscherbelter Ramsch, in Japan produzierte, »echt
schottische« Souvenirs, die um den Titel Das Letzte vom
Letzten konkurrieren: Schottenröckchen made by Themepark
Puroland, Japan, animierte kniehohe Ungeheuer von Loch Ness, die
wütend zischen können, gebrauchte Laptops. Überall
wuseln Menschen herum – von den Themenkneipen (Hinrichtungen
durch den Strang scheinen hier als besonders witzig zu gelten) bis zu
den teuren Bekleidungsgeschäften mit ihren Stoffauslagen und
digitalen Spiegeln. Straßenkünstler, Teil des Fringe, der sich ständig wandelnden Alternativkultur Edinburghs,
verstopfen die Bürgersteige. Ein Roboter, der Pantomimen
aufführt – sein Gesicht hat einen sehr traditionellen
Silberanstrich –, imitiert die Bewegungen der Passanten mit
ironischen, stilisierten Gesten.
»Versuch’s in der Absteige der Stadtstreicher«,
schlägt Aineko, die mittlerweile in Annettes Schultertasche
steckt, von ihrem sicheren Platz aus vor.
»In der…« Annette stutzt, während ihr
Thesaurus Verbindung mit der quelloffenen Behörden-Firmware
aufnimmt und ein Verzeichnis der Sozialen Dienste der Stadt samt
Ortsangaben in ihr Sensorium lädt. »Oh, jetzt verstehe
ich.« Der Grassmarket selbst ist Touristengebiet, aber nach
einer Seite hin – an einer verdreckten Häuserschlucht
entlang, die aus scheußlichen, sechsstöckigen
Steingebäuden besteht – geht der Platz eindeutig in ein
ärmliches Viertel über. »Okay.«
Annette schlängelt sich an einem Stand mit Wegwerf-Handys und
billigen Genom-Explorern vorbei und schlägt einen Bogen um eine
Gruppe schnatternder Teenager, die offenbar von irgendeinem
japanischen Kawaii- Fetisch fasziniert sind. Von der Höhe
ihrer rosafarbenen Plateauschuhe aus sehen die Mädchen
erschrocken auf sie hinab: Vermutlich halten sie Annette für die
Bewährungskontrolleurin einer Schule. Danach kommt sie an einem
Stand mit abgestellten, angeketteten Fahrrädern vorbei, dessen
Bewacherin sich tödlich zu langweilen scheint. Annette steckt
ihr unauffällig einen appetitlichen Zehneuroschein in die
Tasche, ehe die Frau es überhaupt richtig bemerkt. »Wenn
Sie ’eiße Ware, ein Fahrrad, kaufen wollten«, fragt
sie, »wo würden Sie dann ’ingehen?« Die
Aufseherin starrt sie nur an, sodass Annette einen Augenblick glaubt,
sie falsch eingeschätzt zu haben. Doch dann murmelt sie
irgendetwas.
»Wie bitte?«
»Zu McMurphy. Hieß früher Bannerman. Die
Cowgate runter, in dieser Richtung.« Die Aufseherin wirft
nervös einen Blick auf die ihr anvertrauten Räder.
»Sie haben doch nicht etwa…«
»Aha.« Annette blickt in die angedeutete Richtung: Der
Weg führt direkt in die dunkle Häuserschlucht. Naja, was
soll’s. »’offentlich lohnt sich das wenigstens,
Manny, mon chèr«, murmelt sie leise.
McMurphy, das sich den Anstrich eines irischen Pubs zu
geben versucht, ist eine Steingrotte unterhalb einer
Hügelstraße mit nichts sagenden Büros. Früher
einmal war es tatsächlich ein irisches Pub, doch dann bekamen es
irgendwelche Stadtentwickler in die Finger und verwandelten es in
schneller Folge in einen Punk-Nachtclub, eine Weinstube und
später in einen nachgemachten holländischen Coffee Shop. Es
dauerte nicht lange, bis der Stern des Etablissements zu sinken
begann und es in der Szene nicht mehr angesagt war. Inzwischen ist
hier tote Hose, und es ist erstaunlich, dass die dahin siechende
Kneipe überhaupt noch existiert. Es ist die Art von »echt
irischem« Pub, die sich damit schmückt, dass Neonleuchten
in Form
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