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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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das untere Gestell
entfaltet und eine seltsam lebendige Bettdecke an Manfreds
Füßen hochkriecht. »Hören Sie, Manny, es wird
Ihnen bald wieder besser gehen.«
    »Wer bin ich und was bedeute ich?«, murmelt Manfred und
führt übergangslos fort: »Jede Menge
Entscheidungsbäume, die sich weit verzweigen. Fraktale
Verdichtung. Viele synaptische Verbindungen, die von wohlwollenden
Endorphinen geölt werden…«
    Auf der anderen Seite des Zimmers springt der hauseigene und
selbstverständlich illegale Arzneimittelmischer an, um
verschiedene starke Beruhigungsmittel herzustellen. Monika geht kurz
in die Küche, um für Manfred etwas Flüssiges zum
Nachspülen zu holen.
    »Warum tun Sie das?«, fragt Manfred benommen.
    »Ist schon in Ordnung. Legen Sie sich hin, entspannen Sie
sich.« Alan beugt sich über ihn. »Morgen früh,
wenn Sie wieder wissen, wer Sie sind, sprechen wir alles durch.«
(Und an Monika gewandt, die mit einer Flasche Eistee ins Zimmer
kommt: »Wir geben Gianni wohl besser Bescheid, dass Manfred
erkrankt ist. Kann sein, dass einer von uns dem Minister einen Besuch
abstatten muss. Weißt du, ob Macx durchgecheckt worden
ist?«) »Ruhen Sie sich aus, Manfred, es ist für alles
gesorgt.«
    Schwer angeschlagen von seiner Migräne, befolgt Manfred
lammfromm Monikas Anweisungen und trinkt den mit chemischen Keulen
versetzten Tee. Es dauert etwa fünfzehn Minuten, bis er sich auf
den Rücken legt und schließlich entspannt. Seine
Atemzüge werden langsamer, und das leise Gemurmel hört auf.
Monica, die neben ihm sitzt, greift nach seiner rechten Hand, die auf
der Bettdecke ruht.
    »Möchten Sie ewig leben?«, psalmodiert sie im
Tonfall von Bob Franklin. »In mir können Sie ewig
leben…«
     

     
    Die Kirche der Heiligen der Letzten Tage glaubt, dass ein Mensch
nur als Getaufter Einlass ins Gelobte Land findet. Aber die Kirche
kann diese Taufe auch an einem Toten vollziehen, sofern dessen Name
und Abstammung bekannt sind. Die kirchliche Datenbank der Genealogien
zählt zu den eindrucksvollsten Errungenschaften historischer
Forschung überhaupt. Und Bekehrungen liegen der Kirche am
Herzen.
    Das Franklin-Kollektiv glaubt, dass ein Mensch nur dann Einlass in
die Zukunft findet, wenn sein neuronaler Zustandsvektor digitalisiert
wurde oder wenigstens eine so vollständige Momentaufnahme seines
sensorischen Inputs und Genoms vorliegt, wie es der gegenwärtige
Stand der Technik erlaubt. Um diese Dinge vornehmen zu lassen, muss
man nicht unbedingt am Leben sein. Die vom Kollektiv geschaffene Society of Mind zählt zu den eindrucksvollsten
Errungenschaften der Informatik überhaupt. Und Bekehrungen
liegen dem Kollektiv am Herzen.
     

     
    Die Nacht senkt sich über die Stadt.
    Annette steht ungeduldig vor dem Hauseingang. »Lassen Sie
mich rein, verdammt noch mal!«, knurrt sie in die
Gegensprechanlage. »Merde!«
    Jemand macht auf. »Wer…«
    Sie schiebt den Mann hinein, tritt die Tür zu und lehnt sich
dagegen. »Bringen Sie mich zu Ihrem Bodhisattva.
Sofort!«
    »Ich…« Er dreht sich um und geht hinein, einen
düsteren Korridor entlang, der an einer Treppe vorbeifuhrt.
Annette folgt ihm mit großen, aggressiven Schritten. Als er
eine Tür öffnet und ins Zimmer schlüpft, ist sie ihm
so schnell auf den Fersen, dass er ihr die Tür nicht vor der
Nase zuschlagen kann.
    Der Raum wird von indirekter Beleuchtung so erhellt, als wäre
er ins warme Tageslicht eines Sommernachmittags getaucht. In der
Zimmermitte steht ein Bett, auf dem jemand, umgeben von wachsamen
Diagnosegeräten, fest schläft. Zwei Wachen sitzen rechts
und links am Bettrand.
    »Was ’aben Sie ihm angetan?«, fragt Annette scharf
und eilt auf das Bett zu. Als sie sich darüberbeugt, sieht
Manfred zwinkernd und mit trübem, verwirrtem Blick zu ihr auf.
»’allo? Manny? – Falls Sie irgendetwas mit ihm
angestellt ’aben…«, zischt sie über die
Schulter.
    »Annie?« Er wirkt verdutzt. Eine der Wachen schiebt ihm
eine knallige, orangefarbene Brille (nicht Manfreds eigene) auf die
Stirn, die an ein Paar gestrandeter Quallen erinnert. »Ich
fühle mich nicht wohl. Wenn ich den Mistkerl erwische, der
dafür verantwortlich ist…«
    »Das wird schon wieder«, sagt Annette energisch. Bewusst
erzählt sie ihm nichts von dem Handel, den sie abschließen
musste, um seine Erinnerungen zurückzubekommen. Sie setzt
Manfreds Brille ab und streift sie ihm im Austausch gegen die
Ersatzbrille behutsam über. Die Gürteltasche deponiert sie
neben seiner

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