Accelerando
Identität für das
Franklin-Kollektiv ein Politikum ist.
»Ein Verbrechen anzeigen.« Monicas Gesichtsausdruck
wirkt leicht spöttisch. »Geht es zufällig um einen
Diebstahl der Identität?«
»Ja, ja, ich weiß schon, was Sie sagen wollen:
Identität ist Diebstahl, trau niemandem, dessen
Zustandsvektor sich nicht länger als eine Gigasekunde
aufgespaltet hat, der Wandel ist die einzige Konstante, blabla. Mit
wem spreche ich übrigens? Und falls wir wirklich miteinander
sprechen, heißt das dann nicht auch, dass wir Ihrer
Einschätzung nach mehr oder weniger auf derselben Seite
stehen?« Krampfhaft versucht er, sich im Liegesessel
aufzusetzen. Die Motoren des verstellbaren Möbelstücks
quietschen leise, als es sich Manfreds Körperhaltung anzupassen
versucht.
»Welche Seite man einnimmt, kann variieren.« Die Frau,
die manchmal als Monica auftritt, wirft ihm einen verschlagenen Blick
zu. »Die Anzahl der Seiten neigt dazu, sich drastisch zu
verändern, wenn man die Anzahl der Dimensionen variiert. Sagen
wir einfach, dass ich derzeit sowohl Monica als auch unseren
Gönner darstelle. Genügt Ihnen das?«
»Unser Gönner, der du bist im Cyberspace…«
Sie lehnt sich auf dem Sofa zurück, das summt und einen
Klapptisch mit einer kleinen Hausbar ausfährt.
»Möchten Sie etwas trinken? Darf ich Ihnen einen Kaffee
anbieten? Guarana? Oder vielleicht eine Berliner Weiße, um der
alten Zeiten willen?«
»Guarana reicht mir. Hallo, Bob. Wie lange bist du schon
tot?«
Sie kichert. »Ich bin nicht tot, Manny. Vielleicht bin ich
kein perfektes Upload, aber wenigstens fühle ich mich wie ich
selbst.« Sie verdreht die Augen, um Verlegenheit anzudeuten.
»Er macht gerade rüde Bemerkungen über Ihre Frau, aber
ich werde sie nicht weitergeben.«
»Meine Ex-Frau«, korrigiert er automatisch. »Der,
äh, Steuer-Vampir. – Also agieren Sie, wie ich annehme, als
Bobs Sprachrohr?«
»Stimmt.« Sie sieht Manfred mit überaus ernster
Miene an. »Wir verdanken ihm viel, wissen Sie. Er hat sein
Vermögen zusammen mit Teilen seines Zustandsvektors der Bewegung
anvertraut. Wir fühlen uns verpflichtet, seine
Persönlichkeit so oft wie möglich wiederauferstehen zu
lassen, auch wenn das, was man mit ein paar Petabytes von
Aufzeichnungen machen kann, eher begrenzt ist. Aber wir haben
Helfer.«
»Die Hummer.« Manfred nickt vor sich hin und nimmt das
angebotene Glas entgegen. Der Diamantschliff glitzert strahlend in
der Nachmittagssonne. »Ich wusste, dass das hier mit den
Hummern zu tun hat.« Mit dem Glas in der Hand beugt er sich vor
und runzelt die Stirn. »Wenn ich mich doch nur daran erinnern
könnte, warum ich hierher gekommen bin! Es hatte mit einer Sache
zu tun, die aus den tiefsten Schichten meiner Erinnerung nach oben
gedrungen ist… mit einer Sache, der mein eigener Schädel
nicht getraut hat. Und irgendwie war Bob dabei im Spiel.«
Die Tür hinter dem Sofa öffnet sich: Alan tritt ins
Zimmer. »Entschuldigen Sie mich«, sagt er ruhig,
während er den Raum durchquert. Aus der hinteren Wand klappt ein
Computerarbeitsplatz, aus einer Nische rollt ein Bürostuhl
heran. Alan nimmt Platz, stützt sein Kinn auf die Hände,
starrt auf den weißen Rechner und murmelt hin und wieder leise
vor sich hin. »Ja, ich verstehe… das Hauptquartier der
Kampagne… Spenden müssen durch die
Rechnungsprüfung…«
»Giannis Wahlkampagne«, gibt Monica Manfred als
Stichwort vor.
Er fährt zusammen. »Gianni…« Ein ganzes
Bündel von Erinnerungen löst sich in seinem Kopf, als ihm
die Botschaft seines politischen Frontmanns wieder einfällt.
»Ja! Genau darum geht es – es muss so sein!« Aufgeregt
sieht er Monica an. »Ich bin hier, um Ihnen eine Botschaft von
Gianni Vittoria zu überbringen. Es geht um…«
Niedergeschlagen bricht er ab. »Ich weiß es nicht mehr
genau«, sagt er unsicher, »aber die Sache war wichtig. Es
geht um irgendetwas, das sich auf lange Sicht als problematisch
erweisen könnte, hat irgendwie mit kollektiven Intelligenzen und
dem Wahlrecht zu tun. Aber derjenige, der mich ausgeraubt hat, ist
jetzt im Besitz dieser Botschaft.«
Der Grassmarket, ein mit Kopfsteinen gepflasterter Platz unterhalb
der düsteren Zinnen von Castle Rock, wirkt übertrieben
rustikal. Annette ist auf der Seite stehen geblieben, auf der sich
früher die Galgen befanden und Hexen durch den Strang
hingerichtet wurden. Sie schickt ihre unsichtbaren Agenten aus, damit
sie sich auf Manfreds Fährte setzen. Aineko –
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