Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Schreien komisch finden, wenn ein bayerischer Katholik in einer Berliner Opernaufführung »Gotteslästerung!« brüllt, weil der Jesus-Statist mit blinkender Dornenkrone vom Kreuz steigt und mit ein paar feschen Nonnen tanzt? Wodurch »lassen sie sich verführen, die >gekränkten< Muslime in Schutz zu nehmen?« – wie Hirsi Ali selbst fragt.
Eine auf den ersten Blick plausibel klingende Erklärung bietet die türkischstämmige Soziologin Necla Kelek in ihrem Buch über muslimische Zwangsehen Die fremde Braut an: »Gerade die gut meinenden Deutschen neigen dazu, in jedem hier Asyl suchenden Ausländer gleichsam den Wiedergänger eines vor dem Holocaust zu rettenden Juden zu sehen. Schuldbewusstsein scheint hierzulande wichtiger zu sein als die Verfassung.« Gegen die These spricht jedoch, dass die Beißhemmung, die »die gut meinenden Deutschen« immer dann haben, wenn es darum geht, Menschenrechtsverletzungen, die im Namen des Islam begangen werden, zu kritisieren, aussetzt, wenn es darum geht, israelische Exzesse gegenüber den Palästinensern anzuprangern. Wäre es nicht nahe liegender, in Israelis »Wiedergänger der vor dem Holocaust zu rettenden Juden« zu sehen als in Muslimen? Sind wir vielleicht doch immer noch heimliche Antisemiten, allen voran die guten, »Ichbin-eine-Lichterkette«-Deutschen? Es ist komplizierter. Denn das diffuse Schuldgefühl, es für verdiente Strafe zu halten, wenn muslimische Attentäter Flugzeuge in Hochhäuser fliegen oder Vorortzüge in die Luft bomben, ist keine rein deutsche Spezialität. Der »gute Westler« kann sich individuell offensichtlich nur »gut« fühlen,wenn er erklärt, dass er kollektiv »böse« ist. Nun könnte man diesen Winkelzug der westlichen Psyche als kindlich rührend belächeln, wenn er nicht die, die ihm anhängen, zu der irrigen Annahme verleiten würde, dass sie, da sie ja bereits Schuldgefühle haben, sich per definitionem nicht mehr schuldig machen können. So wie der, der bereits die Grippe hat, sich nicht mehr anstecken kann. Mitnichten. »J’accuse« heißt nicht: Ich stelle mich auf den Markplatz und brülle: »Mea culpa!«. »J’accuse« heißt, dafür zu kämpfen, dass bestimmte Barbarismen, die Europa lange genug selbst begangen hat, nicht mehr begangen werden. Nichts wird »wieder gut« einfach dadurch, dass der Westen Blankoschuldscheine quer durch die Welt verteilt. Interessanterweise sind es Frauen – die sich bis vor Kurzem wenigstens ihrem Selbstverständnis nach doch eher zu den Unterdrückten als zu den Unterdrückern zählten -, die sich diesen Birkenstock-bequemen Schuldschuh des Westens besonders gern anziehen.
Wie schön wäre es, könnten die feministisch inspirierten Geschlechtsgenossinnen ihre alte Faustregel, dass jeder, der laut nach Freiheit und Menschenrechten ruft, in Wahrheit nur die Interessen des mächtigen weißen Mannes vertreten will, endlich überwinden. Und die Vermutung, dass jede Frau, die unversöhnlich ihre Stimme erhebt, irgendwie verdächtig ist, gleich mit. Doch unterschwellig scheinen noch immer viele zu glauben, unversöhnlich die Stimme zu erheben sei eine männliche Verhaltensauffälligkeit. Offensichtlich halten sich nicht nur fromme Muslimas lieber bedeckt.
Im Spiegel haben dieselben Redakteurinnen, die unlängst die Titelgeschichte »Allahs rechtlose Töchter« herausbrachten und damit zum ersten Mal eine breite Aufmerksamkeit für die Situation muslimischer Frauen in Deutschland schufen, nichts Besseres zu tun, als Hirsi Ali im Interview mit Bemerkungen zu belästigen wie: »Ihr Tschador besteht aus Bodyguards. War es das wert?« oder: »Nun klingen Sie selbstwie eine Märtyrerin. Die Terroristen vom 11. September waren auch bereit, für ihre Ideen zu sterben.«
Was soll das? Dass die Multikulti-Funkenmariechen der Grünen und anderer selbst ernannter Avantgardevereine in diesem Land für Hirsi Ali nicht Stellung beziehen, damit wird man leben müssen. Aber dass Frauen, die sonst einen klaren moralischen Kompass besitzen, ausgerechnet bei dieser Kämpferin unter Beweis stellen müssen, wie ganz doll kritisch sie sein können, ist lächerlich, ärgerlich und fatal, wenn es darum geht, das Projekt »Aufklärung des Islam von innen heraus« zu unterstützen.
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