Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
KulturenStattdessen liest sie die Autobiografte von Ayaan Hirsi Ali. .
Im Mai fand des fortschrittlichen Berliners liebstes Straßenfest statt: Der Karneval der Kulturen. Chinesische Drachen schwänzelten um brasilianische Samba-Königinnen herum, afrikanische Medizinmänner trommelten sorbischen Gurkenprinzessinnen den Marsch, und ein paar echte Schwarzwaldmädel durften auch mittanzen. So schön und bunt kann Multikulti sein.
Nun gehört zu jedem richtigen Karneval nicht nur das Feiern, sondern auch der Aschermittwoch, an dem alles vorbei ist. Deshalb traf es sich gut, dass just am Aschermittwoch der Kulturen zwei Bücher muslimischer bzw. ehemals muslimischer Frauen erschienen sind, die daran erinnern, dass nicht alles Karneval ist, wo »Kulturen« draufsteht.
Weil sie unerkannt bleiben möchte, erzählt »Inci Y.« ihre Geschichte unter Pseudonym: Wie sie 1970 im türkischen Viertel einer deutschen Kleinstadt geboren, als Mädchen zur Großmutter nach Ankara abgeschoben, als Jugendliche wieder nach Deutschland zurückgeholt und schließlich auf Betreiben der Mutter mit einem jungen Mann in einem anatolischen Dorf verheiratet wird – die (muslimisch brav verheiratete) Mutter hat mit dem Vater dieses jungen Mannes eine Affäre und braucht ein Alibi, um öfter in sein Dorf reisen zu können. Inci Y. berichtet vom paranoiden Kult, der vor der Hochzeit um ihre Jungfräulichkeit veranstaltet wird, von den inner- und außerehelichen Vergewaltigungen, die sie mit anerzogener Duldsamkeit über sich ergehen lässt. Und sie erzählt vom Versagen des deutschen Schulsystems, welches sie – die im Unterricht jegliche Teilnahme verweigert – mit dem Vermerk »nf« (»Wissensstand nicht feststellbar«) von Klasse zu Klasse verschiebt. Bis endlich eine Lehrerin auftaucht, die ihr Noten gibt – Fünfen und Sechsen. Inci bleibt sitzen. Und freut sich, dass sie zum ersten Mal ernst genommen wird, so behandelt wie eine deutsche Schülerin, anstatt, mit dem fragwürdigen Freibrief »Einwandererkind« ausgestattet, unter allen Messlatten hindurchrutschen zu dürfen.
Der Titel Erstickt an euren Lügen meint nicht nur die Glaubensbrüder und -schwestern, die ein entjungfertes Mädchen vor der Hochzeit lieber wieder zunähen lassen, als den barbarischen Tanz ums Jungfernhäutchen zu hinterfragen. Er meint auch die deutschen Islamversteher und -versteherinnen, die diesen Tanz für eine besonders beklatschenswerte Nummer beim Karneval der Kulturen halten.
Nicht anonym, dafür mit noch größerer Wut auf beide Seiten schreibt eine, die es aus eigener Kraft geschafft hat, sich aus dem »Jungfrauenkäfig« zu befreien: Ayaan Hirsi Ali. In die Schlagzeilen geriet die 1969 in Somalia geborene Politikerin und Frauenrechtsaktivistin, die 1991 vor ihrer Zwangsverheiratung in die Niederlande flüchtete, im November 2004, als ein junger Marokkaner den Filmemacher Theo van Gogh in Amsterdam auf offener Straße ermordete. Van Gogh hatte Submission Part I gedreht – einen Kurzfilm nach einem Drehbuch von Hirsi Ali, der die verschiedenen Spielarten der Unterwerfung der Frau im Islam zeigt. Der Brief, der sich an dem Messer befand, das der muslimische Attentäter Theo van Gogh in die Brust gerammt hatte, kündigte an, dass Hirsi Ali das nächste Opfer sein werde. Der Polizeischutz, unter dem sie ohnehin bereits stand, seit sie sich öffentlich vom Islam distanziert und zum Atheismus bekannt hatte, wurde verstärkt, Hirsi Ali tauchte unter, zunächst in den Niederlanden, dann in den USA, »weil man dort weiß, was islamistische Bedrohung bedeutet« – so Hirsi Ali in einem Interview. Seit Anfang dieses Jahres sitzt sie wieder im niederländischen Parlament, gibt Interviews, tritt öffentlich auf.
Mit Ich klage an erscheint zum ersten Mal ein Buch dieser unerschrockenen Frau auf Deutsch. Die hasserfüllten Reaktionen werden auch hierzulande nicht lange auf sich warten lassen. Zum Beispiel, weil Hirsi Ali »Zehn Tips für Muslimas, die weglaufen wollen« gibt – diese reichen von pragmatischen Hinweisen bis zu seelischem Zuspruch.
Aber es sind vielleicht gar nicht die praktischen Ermunterungen zum weiblichen Ungehorsam, die das muslimische Blut am stärksten in Wallung bringen: Viel härter trifft, dass Hirsi Ali mit lange gehegten Grundannahmen aufräumt. Zum Beispiel der, dass der Islam als solcher eine friedliche Religion sei und nur von einigen fehlgeleiteten Fundamentalisten missbraucht würde. Hirsi Ali hält den gesamten Islam in
Weitere Kostenlose Bücher