Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
fahren. Wurde in der Yamanote-Linie rechts und links geschlafen, wird in der Ginza-Linie rechts und links gespielt. Männer, Frauen, Alt und Jung, alle haben ein neuestes Handy mit aufklappbarem Display in der Rechten und lassen die Finger über die Tasten hüpfen. Telefonieren ist in Zügen des öffentlichen Nahverkehrs unerwünscht, in Nähe der Greisen-, Behinderten- und Schwangeren-Sitzplätze ausdrücklich untersagt. Woran sich jeder hält. Allerdings habe ich noch keinen einzigen Greis, Behinderten und keine einzige (sichtbar) Schwangere in der U-Bahn gesehen.
Verziert sind all die schicken, neuen Hightech-Handys mit einem Rattenschwanz aus mindestens fünf Kleinstanhängern: Die Auswahl reicht vom schlichten Glasperlenspiel (eher bei Männern beliebt) über das daumennagelgroße Sushi-Imitat bis hin zum Mikrokätzchen auf Minibrötchen. Kawaii nennt der Japaner diese Niedlichkeiten, und nicht nur diese, kawaii ist überhaupt eine der zentralen ästhetischen Kategorien im »Kindergarten-State«. Frauen strengen sich bis ins mittlere Alter an, kawaii zu sein, und wenn sie nicht gerade im Bürodienst sind, kennen auch jüngere Männer keinerlei Niedlichkeitsängste. Ganze Kaufhausabteilungen widmen sich der Verbreitung von kawaü-Artikeln . Die bei manch einer Kommunikationsdesignerin hierzulande so beliebte »Hello-Kitty«-Handtasche würde einer Japanerin jedoch nur mehr ein müdes Lächeln entlocken. Extrem angesagt dagegen sind Morizo und Kiccoro, die beiden Maskottchen der Expo, die gerade in Japan stattfindet, wobei Morizo (»Großväterchen Wald«) ein etwas größerer dunkelgrüner Puschel ist, und Kiccoro (»Waldkind«) ein etwas kleinerer hellgrüner Puschel. Leider ist es mir nicht gelungen herauszufinden, woher mein Favorit, ein extrem mufflig dreinschauender Rettich, stammt, den es in allen Plüsch- und Plastikvarianten zu kaufen gibt. Ich wünsche ihm, dass er der Held in einer fabelhaften Zeichentrickserie ist.
An der Haltestelle »Ginza« steigen Heerscharen von Frauen in uniformierten Hemden ein, blau, gelb, rosa, grün. Der Andrang kann nur eins bedeuten: Die Vorstellung im benachbarten »Takarazuka«-Musical-Theater ist aus. Genauer gesagt muss die Vorstellung schon seit einer ganzen Weile aus sein, die Damen in den Hemden sind ergebene Fans, die am Straßenrand in ordentlichen Dreierreihen und nach Hemdfarben sortiert stundenlang gewartet haben, bis »ihr« Star aus dem Theater kommt und seinem Fanblock die Ehre erweist. Die Stars, die diese Frauen anhimmeln, sind Frauen, die Männer spielen. Bei »Takarazuka« darf kein einziger biologischer Mann auf der Bühne stehen. Und das schon seit hundert Jahren nicht. »Sissi« wurde dort aufgeführt und bekannte Broadway-Musicals, doch egal, was läuft, die unbestrittenen Stars sind nicht die Darstellerinnen in den schönen Ballkleidern, sondern die in den Offiziersuniformen und Fräcken. Ich betrachte die Frauen, deren Gesichter leuchten, als kämen sie frisch vom Ehebruch. Könnte ich genug Japanisch, um eine dieser Frauen zu fragen, ob sie lesbische Neigungen hat, würde sie mich so entsetzt anstarren, als sei ich mit den Klopantoffeln durch ihre gute Stube gelaufen. Nein, nein, liest man in den Programmheften, »Takarazuka« mag die größte weibliche Travestieshow der Welt sein, aber sowohl die Männerdarstellerinnen als auch die zigtausend weiblichen Fans seien allesamt brave Heteras.
Der Zug hält in Aoyama-Itchome, die gelbe Gruppe drängt zum Ausgang, der selige Traum, in einer Welt zu leben, in der die Männer so zart und verständnisvoll und dennoch so tapfer beschützend sind wie bei »Takarazuka«, beginnt zu verblassen. Die Frauen ziehen die Hemden aus, packen sie in ihre Taschen, gewöhnliche Blusen und T-Shirts kommen zum Vorschein. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, wo Ehemann, Schwiegereltern und Kind ungeduldig auf ihr Nachtmahl warten.
Ich fahre weiter bis Shinjuku, dem größten Bahnhof Tokios, Millionen Menschen steigen hier täglich um. Dort, wo die Leuchtreklamen noch greller locken als im Rest der Stadt, beginnt Kabuki-cho, das Viertel, in dem nichts mit Kabuki (das Theater, das dem Stadtteil seinen Namen gab, wurde nie gebaut), und fast alles mit Sex zu tun hat. Ich habe einen Auftrag. Ein befreundeter Kriminalkommissar aus Deutschland hat mich gebeten, einen jener legendären Automaten zu finden, an dem man Schulmädchenschlüpfer ziehen kann, die zuvor von Hausfrauen in Heimarbeit mit Thunfisch eingerieben
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