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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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zwei Wochen begegne ich dem ersten Großstadtneurotiker. Ein japanisches Sprichwort besagt: »Der Nagel, der heraussteht, wird reingeschlagen.« Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wo all die Nägel sind, die beim Reinschlagen Widerstand geleistet haben. Ob es irgendwo in dieser Zwölf Millionen-Stadt geheime Orte gibt, an denen die krummen Nägel weggeschlossen werden? Oder entlarvt mich mein Verdacht, in einer Gesellschaft mit solchem Reinschlagdruck müsse es jede Menge krummer Nägel geben, als hoffnungslose Westlerin? Vielleicht sind die Menschen ja einfach glücklich hier. Der Mann hat gemerkt, dass ich ihn anstarre. Er zieht den Kopf zwischen die Schultern und verschwindet in der Nacht.
    Die letzte U-Bahn ist überfüllt, ich bekomme nur noch einen knappen Stehplatz. Der Zug schaukelt los, ich merke, wie mein Kopf an die Brust des Mannes neben mir sinkt, der vielleicht gar kein Mann, sondern eine Frau ist. Tokio ist die ideale Stadt für den westlichen Stadthirschen, der fremdgehen will, ohne dabei wirklich verloren zu gehen, denke ich und schlafe ein.

Sommerfußball
     
    In Deutschland ist die Welt zu Gast bei Freunden. Thea Dorn ist zu Gast im Biergarten.
     

I. Die Sache mit der Hymne
     
    Im Allgemeinen neige ich dazu, Menschenmassen zu meiden. Doch heute Abend werde auch ich wieder in den Biergarten ziehen. Beim letzten Vorrundenspiel der Deutschen war ich zum ersten Mal dort. Als die Nationalhymne gesungen wurde, erhoben sich von den dreitausend Landsleuten vielleicht dreihundert eher zögerlich. Beim Achtelfinale waren es siebenhundert, beim Viertelfinale stand bereits der halbe Biergarten auf. Wird heute Abend der ganze Biergarten mitsingen? Wenn ja: Was soll uns das sagen?
    Stellen Sie sich vor, Sie wären Kandidat in einer Quizshow und hätten die Frage zu beantworten: In welcher der folgenden Nationalhymnen kommt weder der Begriff »Waffen«, »marschieren« noch »Tod« vor: (a) Marseillaise, (b) Fratelli d’Italia, (c) A Portuguesa, (d) deutsche Nationalhymne? Glückwunsch. Die richtige Antwort lautet (d).
    Totti & Fratelli werden heute Abend singen, bereit zum Tod zu sein, da Italien gerufen hat. Figo und seine Mannen werden morgen Abend die Helden des Meeres zu den Waffen rufen, um die »Pracht Portugals« wieder aufzurichten – »über Land und über See«. Was ihnen allerdings keinen mentalen Vorsprung verschaffen dürfte, denn ihre Gegner um Zidane werden gleichfalls zur Bewaffnung und zum Marschieren auffordern, »damit ein unreines Blut unserer Acker Furchen tränke«. Nur gut, dass Italiener auf Italienisch, Portugiesen auf Portugiesisch und Franzosen auf Französisch singen. Wer weiß, welche Roten Karten der germanisch-pazifistische Erregungschor unseren Fußballgästen sonst schon gezeigt hätte.
    Wir Deutschen haben sechs Millionen und mehr Gründe, uns zu schämen. Aber sollte unsere Hymne mit ihrer unmartialisch-demokratischen dritten Strophe ebenfalls Anlass zu Scham sein? Oder gibt der Wandel vom »Deutschland, Deutschland über alles« hin zu einem Land, in dem »Einigkeit und Recht und Freiheit« herrschen sollen, nicht Anlass zu bescheidenem Stolz?
    Auch ich war bis vor Kurzem eine der geschätzten 79,9 Millionen Deutschen, die den Text unserer Hymne nicht einmal hätte mitsingen können, selbst wenn sie gewollt hätte. Denn in der Tat: Unsperrig ist es nicht, was Hoffmann von Fallersleben da vor 165 Jahren auf Helgoland gedichtet hat. Trotzdem schlage ich lieber im Lexikon nach, was das von Walter Jens als unverständlich-unzeitgemäß geschmähte »Glückes Unterpfand« eigentlich bedeutet, (schließlich ist es mir auch irgendwie gelungen zu begreifen, was das Dosenpfand ist), bevor ich mir im Biergarten und »unseren Jungs« auf dem Platz die Peinlichkeit zumute, vor den italienischen pronti alla morte- Gesängen Brechts »Kinderhymne« intonieren zu sollen, wie in diesen Tagen wieder einmal ernsthaft vorgeschlagen wurde.
    Keine Ahnung, ob ich heute Abend den patriotischen Mindestmumm aufbringen werde mitzusingen. Keine Ahnung, was ich empfinden werde, wenn sich heute der ganze Biergarten erhebt. Das beklemmende Gefühl, einer könnte anfangen, die erste Strophe zu singen, wird bleiben. Obwohl in Zeiten des schwarz-rot-gelben Narrenkappen-Patriotismus vielleicht eher zu befürchten wäre, dass ein Spaßvogel auf die Idee kommt, die zweite Strophe anzustimmen. Das ist die mit dem deutschen Wein – Sie wissen schon.

II Deutschland, einig Katerland .
     
    Liebe, arme

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