Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
unter einen Hut zu bekommen, ist auf dem Boden der Tatsachen aufgeschlagen: Der Staat tut trotz aller Bemühungen nach wie vor nicht genügend für ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten; die Unternehmen begreifen nur zögernd, dass sie über neue Arbeitszeitmodelle nachdenken und Betriebskindergärten schaffen müssen; Väter fühlen sich – trotz Softie-, Metrosexuell- und ähnlichen Lifestyle-Faxen – im Alltag für die Brutpflege immer noch deutlich weniger zuständig als die Mütter. Und die Mütter reiben sich selbst und gegenseitig heftiger denn je mit der Frage auf, ob sie Rabenmutter oder Glucke sind, Karrierebiest oder doch nur Vollzeitmutti, die sich deshalb seit Neustem lieber »Familienmanagerin« nennt.
Zentrales Anliegen des 7oer-Jahre-Feminismus war es, die Frau aus der zwangsläufig für patriarchalisch gehaltenen Familie zu befreien. Der kommende Feminismus scheint in erster Linie die Familie vom patriarchalischen Restmief befreien zu wollen. Dieser Schritt ist absolut nötig, denn es wäre fatal, wenn das Feld der Familiendiskussion weiterhin den biologistisch oder religiös inspirierten Reaktionären überlassen bliebe. Außerdem liegt darin die große Chance, den Feminismus vom Ruf der männerhassenden, mehr oder weniger lesbischen, in jedem Fall »extremistischen« Megäre zu befreien. Andererseits sollte ein neuer Feminismus dringend darauf achten, nicht insgeheim ins selbe Horn zu stoßen wie die demografischen Panikmacher, in deren Augen die aus eigenem Entschluss kinderlose Frau nur ein Paria sein kann. Es wäre eine der weniger lustigen Ironien des Schicksals, wenn ein neuer Feminismus daran mitwirken würde, alle Frauenfragen abermals auf Mutterfragen zu reduzieren.
Eine Emnid-Umfrage ergab im September 2006, dass 50 Prozent der Deutschen dem Satz zustimmen, »Kinder, Familie und ein harmonisches Heim seien wirklich die größte Aufgabe für Frauen.« 47 Prozent widersprachen dieser Aussage. Die deutsche Gesellschaft ist in der Frage, ob sie sich weiter emanzipieren oder doch lieber zurückrudern soll, tief gespalten – allerdings nicht, wie sich plattfeministisch vermuten ließe, in Frauen und Männer. Das interessanteste Detail der Umfrage: 55 Prozent der Frauen bejahten die konservative Frauenrolle, aber »nur« 46 Prozent der Männer. Traut man den Zahlen, scheint es gegenwärtig mehr »Feminismuskandidaten« unter den Männern zu geben als unter den Frauen. Eine neue »Frauenbewegung« darf also hoffen, die Männer mit in Schwung zu bringen. Emanzipation ist eine Frage der Geisteshaltung. Und nicht des Geschlechts.
Will der viel beschworene »neue Feminismus« am Ende mehr sein als ein Partygag, steht er vor der schwierigen – und historisch einzigartigen Aufgabe – nicht Nachbeben einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung, sondern Vorreiter einer solchen zu sein. So wie in den muslimischen Gesellschaften bzw. Gesellschaftsteilen die größten Hoffnungsträger für eine Emanzipation vom Hordendenken hin zum Prinzip der selbstverantwortlichen Individualität Frauen sind, müsste auch bei uns der »neue Feminismus« Auftakt zu einem neuen, leidenschaftlichen Verständnis von Individualismus sein. Auf dass in wenigen Jahren bei dem Wort »Feminismus« niemand mehr an Frauen in lila Latzhosen denken möge – sondern an vernünftige, verantwortungsbewusste Frauen und Männer, eine Elitetruppe der Aufklärung sozusagen, fest entschlossen, unsere westliche Zivilisation gegen alle biologistischen, fatalistischen und religiösen Obskuranten zu verteidigen.
»Wenn Sie ertrinken, bitte rufen Sie um Hilfe!«
Thea Dorn streift durch Tokio und denkt über den westlichen Stadthirschen nach.
Japaner haben die Gabe des grenzenlosen Schlafes. Ich sitze im JR-Train, der S-Bahn in Tokio. Gegenüber, links, rechts von mir schläft es. Die wenigen, die um diese Uhrzeit keinen Sitzplatz gefunden haben, schlafen im Stehen. Der Kopf eines kleineren Mannes ist an die Brust des größeren Mannes neben ihm gesunken. Ich komme mir vor wie der Prinz aus Dornröschen. Nur dass ich nie wagen würde, einen der Schläfer zu küssen. Öffentliches Küssen gilt in Japan als mindestens so unschicklich wie öffentliches Schnäuzen.
Die sanfte Frauenstimme aus den Lautsprechern kündigt die nächste Station an, der Zug hält, die Türen öffnen sich, die Erkennungsmelodie der Yamanote-Linie weht herein. Jede S-Bahn-Linie hat ihre eigene Erkennungsmelodie. Und jede klingt, als hätte Mozart seine
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