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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Papageno-Glöckchen ohne Umweg über die Oper gleich für den Fahrstuhl komponiert. Zwei Frauen greifen nach ihren Taschen, die sie im Schlaf auf dem Schoß gehalten haben und huschen hinaus. Ich werde nie begreifen, wie die Schläfer es schaffen, niemals ihre Station zu verpassen. Drei andere Frauen gleiten herein, die jüngste überlässt den beiden älteren kampflos die frei gewordenen Plätze, sucht ihren Platz in gebührendem Abstand zu den zwei männlichen Stehendschläfern, hängt ihre Handgelenke in die Schlaufen, die von der Decke baumeln und schließt die Augen.
    Ich habe Leute, die öffentlich schlafen können, schon immer bewundert. Die das kindliche Urvertrauen aufbringen, sich der Welt in diesem so völlig schutzlosen Zustand auszuliefern. Noch keine drei Minuten habe ich es gewagt, in der Berliner S-Bahn wegzudämmern. (Wahrscheinlich habe ich in meiner Kindheit zu oft Emil und die Detektive gelesen.) Nach zwei Wochen Tokio fange ich an zu begreifen, dass man dieses Urvertrauen hier getrost wieder hervorlocken darf. Die Zwölf-Millionen-Stadt hat eine Kriminalitätsrate wie Pforzheim. Zumindest was die Einzelstraftaten angeht. Die Yakuza, die japanische Mafia, sind eine andere Geschichte. Aber erstens fahren Yakuza keine S-Bahn und zweitens lassen sie Touristen in Ruhe.
    »The Kindergarten State« nennt der japanische Schriftsteller Fukuda Kiichiro sein Land. Und meint das mehr vorwurfs- denn liebevoll. Vorwurfsvoll, weil die Japaner nicht lernen, eine individuelle Persönlichkeit auszubilden, nicht lernen, wirklich Verantwortung zu übernehmen. Daran ändere auch das legendäre Harakiri nichts, das der Japaner früher beging, wenn er ein schlimmes Versagen zu verantworten hatte – und dem heute der plötzliche Herztod entspricht, den Hunderte oder gar Tausende von japanischen Angestellten jährlich sterben, wenn sie im Büro bei einem groben Fehler ertappt worden sind. Aufs Gehorchen würden die Japaner getrimmt, aufs blind-mechanische Funktionieren, und das von Kindergartenbeinen an. Sichtbarster Ausdruck dieses Paternalismus seien die in Japan allgegenwärtigen Warnschilder und -durchsagen, legendär die Ansage in einem Bus, der die Badewilligen an einen Strand südlich von Tokio bringt: »Wenn Sie eine lange Reise hinter sich haben, bitte ruhen Sie sich erst aus, bevor Sie ins Meer gehen! Wenn Sie ertrinken, bitte rufen Sie um Hilfe!«
    Ich steige aus, nachdem die Dame im Lautsprecher mich vermutlich daran erinnert hat, nichts liegen zu lassen, mir beim Aussteigen weder den Fuß zu brechen noch die Hand einzuquetschen, auch das Baby nicht im Zug zu vergessen und stets die Hände mit Seife zu waschen. Leider kann ich das nur vermuten, trotz intensiver Bemühungen beschränkt sich mein Japanisch immer noch auf arigato gozai masu , die anerkannt höfliche Form des »Dankeschön« und biiru o kudasai - »Geben Sie mir bitte Bier«.
    Vor mir eilen drei Mädchen in Yukatas die S-Bahn-Treppe in Richtung Ausgang hinunter. Die Obis, die breiten Stoffgürtel, die ihren Sommerkimono zusammenhalten, sind im Rücken zu einer riesigen Geschenkschleife gebunden. Die Getas, die Holzpantinen – vermutlich einer der Hauptverursacher der X-Beine bei Frauen hier -, machen auf den Stufen einen Höllenlärm. An den Handgelenken der Mädchen baumeln lustig bunte Stoffbeutel mit Kaninchenmuster. Am linken Ohr der größten baumelt Spiderman.
    Ich gehe in den Park, eine Runde Grün genießen in einer Stadt, die so grünarm ist, dass Hausbesitzer von der Stadtverwaltung dazu gezwungen werden, Dachgärten einzurichten, und normale Mieter ihr Bestes tun, indem sie Töpfe mit Grünpflanzen vor die Türen stellen. An einem Baum neben dem Teich mit den Tretbooten in Schwanengestalt hängt eine Damenhandtasche mit Hundemuster. Dass diese Tasche seit drei Tagen immer noch dort hängt, wundert mich (siehe Pforzheim) nicht mehr.
    Auf dem Weg zurück zur U-Bahn komme ich an den Obdachlosen vorbei, die vor den verschlossenen Schaufenstern von »Matsuzakaya«, einem der großen Tokioter Kaufhäuser, beginnen, ihr Nachtlager aus Umzugskartons aufzuschlagen. Ihre Schuhe haben sie bereits ausgezogen, darunter kommen weiße Socken zum Vorschein. Weiße Socken nicht etwa im Sinne von »früher, in einem besseren Leben einmal weiß gewesen«. Sondern weiße Socken im Sinne von »Ariel«. In einem meiner schlauen Japanbücher steht, die einzige Erbsünde, die der Japaner kenne, sei die Verschmutzung.
    Diesmal entscheide ich mich, U-Bahn zu

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