Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
deutsche Seele! Was soll ich Tröstliches sagen. Das Spiel ist aus. Und du wirst nicht Weltmeister werden.
Viel wurde in den letzten Wochen über dich geredet und noch mehr geschrieben. Die Engstirnigen warnten vor dir. Die Großmäuligen priesen deine Wiedergeburt. Die Schlitzohrigen behaupteten, dich nirgends entdecken zu können und sprachen von »Karneval«. Sollten sie recht haben, fällt der Trost leicht: Nach zweijähriger Abstinenz findet am 15. Juli in Berlin wieder die Loveparade statt. Das ist auch ein großes, lautes Fest. Und anmalen und in Fahnen wickeln kann man sich da mindestens ebenso gut.
Dennoch gibt es einen Winkel in meiner Seele, der hofft, die Schlitzohrigen mögen sich irren – dass es um mehr geht als um Karneval. Denn warum gehörten sie selbst zu denjenigen, die nach dem verlorenen Halbfinalspiel die dicksten Tränen im Augenwinkel hatten? Wirklich nur, weil Weinen am Aschermittwoch zum Pflichtprogramm gehört? Wieso waren sie bereit, knappe vier Wochen ihres Lebens im Wesentlichen damit zuzubringen, mit »unseren Jungs« zu fiebern, wenn es in ihren Augen gar kein »unser« gibt?
Vor einigen Jahren versuchte sich Jürgen Habermas an einem Patriotismus light und lieh sich dafür von Dolf Sternberger den Begriff des »Verfassungspatriotismus« aus. Die Schlitzohrigen der letzten Wochen haben es mit dem »Fußballpatriotismus« versucht: Den Fußballschal fest in der Hand, wurden alle tiefer gehenden Debatten über die deutsche Identität als lächerlich weggewedelt. Welche Seelenlage drückt sich in dem Widerspruch aus, sich einerseits in Biergärten wohlzufühlen, in denen »Steht auf, wenn ihr Deutsche seid!« bzw. in die gegnerische Richtung »Ihr seid nur ein Pizzalieferant!« gegrölt wird, und gleichzeitig darauf zu beharren, dass es keine kollektive Identität gebe und man eine solche auch gar nicht brauche? Waren die Schlitzohrigen auch deshalb so traurig, dass die Deutschen es nicht ins Finale geschafft haben, weil sie ahnten, dass die Zeit des heiter gelebten Widerspruchs nun vorbei ist und es langsam wieder ans Eingemachte gehen wird? Zeit, über ein »Wir« nachzudenken, dass nicht nur aus Schweini, Poldi, Miro, Toren und gehaltenen Elfmetern besteht?
Im kommenden Jahr wird die Mehrwertsteuer auf 19 Prozent steigen. Werden die Menschen, die sich im Sommer 2006 lustige Flaggen auf die Wangen gemalt haben, ebenfalls »Deutschland!« denken, wenn sie dann an der Ladenkasse stehen? Oder wird die nächste kollektive Party tatsächlich wieder unter dem Motto »Deutschland, einig Katerland« stattfinden? Die Erfahrung lehrt, dass es genau zwei Arten gibt, einen Kater zu bekämpfen. Entweder man trinkt am nächsten Tag einfach weiter. Oder man gönnt sich einen Tag in der zur Selbstreflexion einladenden Abstinenzzelle.
Liebe, arme deutsche Seele! Ich wünsche dir einen fabelhaften Restsommer. Vielleicht sehen wir uns im Herbst ja wieder. Ausgenüchtert. Und für den schwarz-rot-goldenen Bikini ist es dann ohnehin zu kalt.
III. Der Ball soll’s richten
Manchmal erinnert mich Fußball an Knoblauch. So wie meine Mutter davon überzeugt war, dass Letzterer die Allzweckwaffe gegen Arteriosklerose, erhöhten Cholesterinspiegel, Verdauungsstörungen, Halsentzündungen, Gicht und böse Träume darstelle, wird auch dem Fußball eine Menge aufgebürdet: Jugendlichen soll er helfen, zu einer fair konkurrierenden Lebenseinstellung zu gelangen; krisengeschüttelten Ländern soll er Selbstbewusstsein geben; geknickten Nationen soll er helfen, das Rückgrat wieder aufzurichten; und in multikulturellen Gesellschaften soll er vorzügliches Integrationsmittel sein.
Frankreich wird am Sonntag im Finale stehen. Mit einer Mannschaft, die eine Freundin von mir zu der Bemerkung hinriss: »Jetztwird doch noch ein afrikanisches Team Weltmeister.« Einige der Spieler waren bereits dabei, als die Franzosen sich vor acht Jahren den goldenen Bruststern erkämpften, den sie jetzt auf ihren Trikots gleich über dem Hahn tragen. Und damals jubelten die Jugendlichen in den Banlieues mit, womöglich noch lauter als die Pariser in den bürgerlichen Vororten. Endlich schien der jour de gloire auch für sie gekommen zu sein.
In diesem Sommer sieht die Lage anders aus: Die Jugendlichen aus den Banlieues verehren Zidane, Henry und Trezeguet immer noch als »ihre« Helden. Doch die Identifikation mit der Nation findet nicht mehr statt. Im Gegenteil herrscht eher die Stimmung, die Spieler seien irgendetwas
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