Ach, wär ich nur zu Hause geblieben - Band 2
freundlichen Schwester des Werkstattbesitzers im Keller, was sehr gemütlich und preiswert obendrein ist, und du weißt ja, wie gern unsere Claudia dicke schwarze Spinnen mag. Au revoir sagt deine Karla.
Quer über »Ersatzteile aus Lyon« kann man einen Fleck erkennen, der vermuten lässt, dass Tante Karla hier aus Notwehr eine der dicken schwarzen Spinnen erschlagen hat, die ihre Claudia so sehr mochte.
Ja, die gute Tante Karla. Bei ihr war im Urlaub immer was los. In Belgien lief bei einem Unwetter das Vorzelt voll Wasser, und die Luftmatratze mit Tante Karla drauf schwamm einen halben Kilometer landeinwärts, bis sie von einem Stacheldraht aufgeschlitzt wurde und sank. In Andalusien paarte sich der Pudel von Tante Karla mit einer Promenadenmischung und Onkel Günther mit dessen Frauchen, und als Tante Karla sich dazwischen werfen wollte, kam es zu einer üblen Schlägerei, in deren Folge Tante Karla zwei Tage im Untersuchungsgefängnis verbringen musste. In Südtirol riss eine Schlammlawine das halbe Ferienhaus mit sich, und zwar die Hälfte, in der Tante Karla gerade auf dem Klosett saß. Der Rest der Familie saß unbehelligt in der anderen Hälfte am Esstisch und spielte Monopoly. In Portugal – das war meine Lieblingsgeschichte – wollte der Hotelier Tante Karla und ihre Tochter an Mädchenhändler aus Übersee verkaufen. Wenn sie und Claudia sich nicht samt Pudel und Onkel Günther mit aneinandergeknoteten Streifen der Laken vom Hotelzimmer abgeseilt hätten und abgehauen wären, hätten wir sie vielleicht niemals wiedergesehen. Der Hotelier leugnete jegliche Verbindungen zu Mädchenhändlern und anderen verbrecherischen Syndikaten und verklagte Tante Karla und Onkel Günther wegen Zechprellerei.
Als Kinder freuten wir uns immer wie die Schneekönige über Tante Karlas Postkarten. Jede einzelne von ihnen las sich wie der Klappentext zu einem Roman.
Mittlerweile sind sowohl Onkel Günther als auch der Pudel gestorben, und Tante Karla fährt seit Jahren immer nur in dieselbe Frühstückspension nach Berggießhübel, wo leiderüberhaupt nichts passiert. Ihre Postkarten wirft meine Mutter nun stets ungelesen ins Altpapier.
Ich nehme wieder die Postkarte in die Hand, die meine Schwester meiner Oma von der Costa Brava geschrieben hat. An den Urlaub mit dem toten Wal und dem kaputten Ball kann ich mich trotz der sich offensichtlich überschlagenden Ereignisse überhaupt nicht erinnern, vielleicht weil ich erst zwei Jahre alt war. Zu der Postkarte gehört ein Foto von meiner Schwester und mir. Wir stehen nebeneinander auf erwähntem Balkon, im Hintergrund das Meer, ich mit Sonnenhut, Pflaster auf dem linken Auge und einem Frotteekleid, meine Schwester mit dem Ball unterm Arm und einem Frotteebikini, bei dem das Oberteil a) völlig überflüssig ist und b) nicht zum Unterteil passt. Sie hat den anderen Arm um meine Schulter gelegt.
»Kannst du dich daran erinnern?«, frage ich meine Schwester gerührt.
»Ja, klar«, sagt sie. »Das war der Urlaub, wo du meinen Ball kaputt gemacht hast.«
Sofort ist meine Rührung wie weggeblasen. »Aber doch nicht mit Absicht«, sage ich.
»Doch«, sagt sie.
»Nein! Der Ball war ganz glitschig von der Sonnenmilch«, sage ich.
»Du kannst dich doch gar nicht daran erinnern.«
»Daran schon«, lüge ich. »Und das Eis war lecker, und alles war aus Frottee.«
»Und du hattest immer Trotzanfälle und hast dich im Sand gewälzt, bis du aussahst wie ein Fischstäbchen«, sagt meine Schwester.
»Und du … - … hast dich auf Papas Sonnenbrille gesetzt und gesagt, ich wär’s gewesen.« Das ist nur ein Schuss ins Blaue, aber meine Schwester sieht ertappt aus.
»Kinder, jetzt zankt euch doch nicht«, sagt meine Mutter. Sie hat immer noch das Foto mit dem fremden Mann in der Hand und betrachtet es mit gerunzelter Stirn. »Heidi hat einen neuen Ball bekommen, und den hat sie dann am nächsten Tag am Strand verloren.«
»Hab ich gar nicht«, sagt meine Schwester.
»Hast du wohl«, sage ich, bevor sie mich aufs Neue beschuldigen kann. Ich habe wirklich keinerlei Erinnerungen an diesen Urlaub. Dafür aber an unzählige andere. Vor allem an die langen Autofahrten. Als wir klein waren, gab es noch keine Anschnallpflicht für die Rücksitze, von Kindersitzen ganz zu schweigen. Meine Schwester und ich bekamen also dort ein kuscheliges Bett gemacht und konnten uns lang ausstrecken und gegenseitig an den Füßen kitzeln. Wir durften auch nach Herzenslust herumturnen und im Stau den
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