Achtung Denkfalle! - die erstaunlichsten Alltagsirrtümer und wie man sie durchschaut
Bundestagsmandate einzuheimsen. Auch der umgekehrte Fall kann eintreten: Eine Partei mit einer größeren Anzahl von Zweitstimmen kann, bleibt alles andere gleich – insbesondere auch die Stimmenzahl für die anderen Parteien–, weniger Mandate beziehen, ganz so, als ob sie weniger Stimmen erhalten hätte. Dieses Zuteilungskuriosum bedeutet im Endeffekt, dass zusätzliche Stimmen für eine Partei dieser Partei selbst Sitzverluste bescheren können und deshalb schaden. Wohlgemerkt, dies ist selbst dann möglich, wenn sich die Stimmenzahlen aller anderer Parteien nicht ändern. Dieser Effekt heißt
negatives Stimmgewicht
[ 40 ] oder auch
inverser Erfolgswert
. Er widerspricht dem demokratischen Grundprinzip, dass jede Stimme gleich viel zählen sollte, sowie auch der eigentlich als selbstverständlich zu erachtenden Forderung, dass sich eine abgegebene Stimme nicht in dem Sinne gegen den Wählerwillen auswirken darf, dass sie der von ihm gewählten Partei einen Nachteil bringt.
Das genannte Phänomen ist nur eines von einigen Wählerzuwachsparadoxa, die die gebräuchlichen Wahlsysteme zu bieten haben.
Um die Möglichkeit von negativem Stimmgewicht beim Hare-Niemeyer-Verfahren exemplarisch zu machen, knüpfen wir an die frühere Rechnung an. Was wäre passiert, wenn die Partei P in Bundesland A hypothetisch 30.000 Zweitstimmen weniger erhalten hätte? Nun, sie bekäme für ihre dann 9,97 Millionen statt 10,00 Millionen Zweitstimmen nach wie vor 100 Sitze zugeteilt (99 aufgrund der abgerundeten Quote und ein weiterer nach Hare-Niemeyer für den Rest 0,75), selbst wenn die Partei Q nach wie vor 10 Millionen Stimmen verbuchen könnte. Nehmen wir weiter an, Partei P hätte in Land A nur noch 4,53 Millionen, aber in Land B nach wie vor 5,44 Millionen Zweitstimmen erzielt.
Zweitstimmen in Millionen
Quote
Sitze (abgerundete Quote)
Weitere Sitze (nach Hare-Niemeyer)
Sitze gesamt
Land A
4,53
45,32
45
0
45
Land B
5,44
54,43
54
1
55
Gesamt
9,97
99,75
99
1
100
Tabelle 34: Stimmen, Quoten und Sitze für Partei P bei geringerer Stimmenzahl
In Land A stünden der Partei nach den Zweitstimmen nunmehr nur 45 Sitze zu, in Land B aber 55 Sitze, also ein Sitz mehr. Dieser zusätzliche Sitz im Parlament wird mit dem nächst nachrückenden Kandidaten von der Landesliste von Land B besetzt. In Land A ist ein Überhangmandat entstanden, denn die 46 Kandidaten, die ein Direktmandat erworben haben, sind unabhängig von der Zweitstimme.
Landesliste
Direktmandate
Sitze gesamt
Land A
45
46
46
Land B
55
48
55
Gesamt
100
94
101
Tabelle 35: Mandate der Partei P bei geringerer Stimmenzahl
Damit würde die Partei P im Saldo, obwohl sie 30.000 Zweitstimmen weniger einheimsen konnte, dennoch statt 100 nun 101 Mandate erhalten. Mehr Mandate für weniger Stimmen sind das: Ein Webfehler im Wahlsystem.
Der beschriebene Effekt hatte schon handfeste praktische Auswirkungen in der realen Politik. Bei der Bundestagswahl 2005 erzeugte ein Zufall ein Paradebeispiel: Als während des Wahlkampfes die NPD-Kandidatin im Wahlkreis 160 in Dresden verstarb, fand in diesem Wahlkreis die Bundestagswahl erst am 2. Oktober und nicht wie in allen übrigen Wahlkreisen bereits am 18. September statt. Als dann die Ergebnisse vom 18. September vorlagen, konnte man mit diesen Zahlen leicht ein wenigMandatsarithmetik für die noch ausstehende Wahl im Wahlkreis 160 betreiben. Bei der vorhergehenden Bundestagswahl 2002 hatte die CDU dort genau 49.638 Zweitstimmen bekommen. Doch würde sie am 2. Oktober 2005 bei der Nachwahl 41.227 Stimmen oder mehr erhalten, dann käme der von uns zuvor untersuchte Effekt ins Spiel. Aus einem Überhangmandat würde ein normal erzieltes Mandat. Auch die Auswirkungen davon ließen sich genau bestimmen: Für den CDU-Politiker mit dem klangvollen Namen Cajus Julius Caesar auf dem Listenplatz Nr.34 der nordrhein-westfälischen CDU ginge dann der Sitz im Bundestag verloren. Also ganz einfach: Erreicht die CDU im Wahlkreis 160 mindestens 41.227 Stimmen bei der Nachwahl, so erhält sie weniger Mandate als bei höchstens 41.226 Stimmen. Und das wäre durchaus nicht unbrisant gewesen, denn nach den Ergebnissen aller übrigen Wahlkreise lag die CDU/CSU bei 225 Sitzen und die SPD bei 222 Sitzen. Bei 41.227 oder mehr Zweitstimmen für die CDU im Wahlkreis 160 bestünde die knappe CDU/CSU-Mehrheit im Bundestag nur noch aus 224 gegen 223 Sitzen.
So fanden sich im Dresdner Wahlkampf für die Nachwahl die Akteure der Parteien in einer
Weitere Kostenlose Bücher