Achtung Denkfalle! - die erstaunlichsten Alltagsirrtümer und wie man sie durchschaut
Kandidaten
Staunenden Auges möge man überprüfen: A gewinnt bei Mehrheitswahl mit einer relativen Mehrheit von 33 Prozent der Stimmen. B gewinnt eine Borda-Wahl mit 247 Punkten. C gewinnt alle Zweikämpfe und ist der Condorcet-Sieger. D ist der Hare-Sieger bei Rangfolgewahl. E gewinnt nach Mehrheitswahl mit zwei Wahlgängen. Ergo: Jeder ist ein Gewinner und kann sich freuen, allein das Wahlsystem macht’s.
Es scheint nach unserer detaillierten Diskussion nicht möglich, die individuellen Präferenzlisten der einzelnen Wähler in widerspruchsfreier und allen wünschenwerten Anforderungen genügender Weise zu einer gemeinsamen Präferenzliste der gesamten Wählerschaft zu vereinigen. Bezeichnen wir eine solche gemeinsame Liste als Kollektiv-Rangliste. Als Ergebnis einer Wahl wird eine gerechte Kollektiv-Rangliste angestrebt. Wir haben aber eine betrübliche Mitteilung zu machen. Es gibt kein rundum zufriedenstellendes Wahlsystem zur Erzeugung einerKollektiv-Rangliste. Der Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Arrow hat das in seiner Doktorarbeit, für die er 1972 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, eindrucksvoll bewiesen. Im Kern sind Wahlverfahren mathematische Funktionen, die eine Menge von Einzelpräferenzen in eine Gruppenpräferenz überführen. Diese Arten von Funktionen umfassen nicht nur die verschiedenen Wahlsysteme der Politikwissenschaft, sondern auch wichtige Zuordnungstypen zum Beispiel in der Ökonomie.
Welche Anforderungen sollte man nach gesundem Menschenverstand an derartige Verfahren und eo ipso an die zugehörigen mathematischen Funktionen stellen? Die obige Formulierung «rundum zufriedenstellend» schließt dabei sicherlich die Gültigkeit von drei ganz banalen Anforderungen mit ein:
1. Wenn die Wähler ihre Ranglisten dahingehend ändern, dass eine Alternative A von keinem Wähler schlechter eingestuft wird als zuvor, dann darf A auch auf der Kollektiv-Rangliste nicht zurückfallen (Monotonie-Prinzip).
2. Wenn alle Wähler eine Alternative einer anderen vorziehen, dann muss das auch für die Kollektiv-Rangliste gelten (Einstimmigkeits-Prinzip).
3. Die Kollektiv-Rangliste hängt bezüglich zweier beliebiger Möglichkeiten A und B nur davon ab, wie die einzelnen Wähler A und B reihen, nicht jedoch davon, wie A und B relativ zu anderen Möglichkeiten C, D, … bewertet werden (Prinzip der Unabhängigkeit von irrelevanten Möglichkeiten).
Wanted! Ein Wahlsystem.
Empfehlenswerte Wahlsysteme, so sollte man meinen, zeichnen sich durch ihre Eignung zu der Aufgabe aus, diesen drei Anforderungen gleichzeitig gerecht zu werden. Kenneth Arrow hat sich mit der Frage befasst, ob es ein Wahlsystem für die Erstellung einer Kollektiv-Rangliste mit diesen drei Eigenschaften gibt. Ergebnis: Es gibt leider keines! Jedenfalls kein akzeptables. Er konnte mathematisch beweisen, dass die allein existierende Lösung darin besteht, dass die Präferenzliste eines Wählers stets zur Kollektiv-Rangliste erklärt wird. Andersausgedrückt, … dass es einen Bestimmer gibt. Überpointiert drückt Michel Balinski das so aus: «Die einzige zulässige Lösung eines scheinbar harmlosen Problems der Demokratie ist höchst undemokratisch: die Diktatur eines Einzelnen.» Es gibt unter Wahlsystemen keine stimmungsaufhellenden Erzeugnisse. Kein Happy End.
Das ist das Arrow-Paradoxon, seit einem Halbjahrhundert das Parade-Paradigma der Wahlsystemforschung. Das früher von uns behandelte Condorcet-Paradoxon ist ein Spezialfall des Arrow-Paradoxons für die Mehrheitswahl.
Das sind demoralisierende Nachrichten. Dennoch müssen in einer Demokratie so fair wie möglich Zigtausende von Ämtern durch Wahl besetzt werden. Einige Autoren haben als Reaktion auf die auch als Arrow’sches Unmöglichkeitstheorem bekannt gewordene Aussage die Ansicht vertreten, es fehle nicht viel, dass man sagen dürfe: Demokratie ist unmöglich. Vielleicht ist es vorsichtiger zu formulieren, dass Demokratie ein paradoxes, wenn auch alternativloses Unterfangen ist.
Damit Sie nicht denken, unsere ganze bisherige Argumentation sei rein akademisch und die angesprochenen Schwierigkeiten würden in der praktischen Politik kaum auftreten, wollen wir als Nächstes das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag ansprechen. Auch das bei der deutschen Bundestagswahl im Jahr 2005 eingesetzte Wahlsystem ist nicht konsistent und weist ebenfalls die Möglichkeit von kontraintuitiven Paradoxa auf.
Bei der Bundestagswahl hat bekanntlich jeder Wähler zwei Stimmen. Die
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