Fitz der Weitseher 03 - Der Nachtmagier
PROLOG
DAS NICHT ERINNERTE
I ch erwache jeden Morgen von neuem mit Tinte an meinen Fingern. Manchmal liege ich weit ausgestreckt auf meinem Schreibtisch, inmitten von Schriftrollen und Pergamenten. Mein Gehilfe, wenn er mit meinem Tablett hereinkommt, mag sich die Freiheit nehmen, mich zu schelten, weil ich wieder einmal nicht den Weg ins Bett gefunden habe. An anderen Tagen schaut er mir ins Gesicht und sagt kein Wort. Ich erkläre ihm nicht, weshalb ich tue, was ich tue, denn dies ist kein Geheimnis, das man an einen jüngeren weitergibt; er sollte durch eigene Mühe zu der Erkenntnis gelangen.
Ein Mann muss eine Aufgabe haben. Heute weiß ich das, doch ich brauchte die ersten zwanzig Jahre meines Lebens, das zu lernen. Darin halte ich mich kaum für einzigartig. Dennoch, es ist eine Lektion, die mir, einmal gelernt, immer gewärtig geblieben ist. Deshalb wollte ich mich dieser Tage nicht nur mit meinen Schmerzen beschäftigen sondern habe mich bemüht, eine Aufgabe zu finden. Ich habe mich einem Unterfangen zugewandt, das mir schon vor langer Zeit von sowohl Prinzessin Philia als auch Fedwren, dem Schreiber, ans Herz gelegt worden war. Diese Seiten sollten der Anfang einer umfassenden Geschichte der Sechs Provinzen sein, doch es fällt mir schwer, mich länger auf ein einziges Thema zu konzentrieren, deshalb verschaffe ich mir Abwechslung mit kürzeren Essays: Theorien über Magie, Betrachtungen über politische Strukturen sowie Reflexionen über andere Kulturen. Wenn die Beschwerden mich am meisten quälen und ich nicht die Kraft habe, meine Gedanken zu ordnen und niederzuschreiben, arbeite ich an Übersetzungen oder befasse mich damit, alte Dokumente zu kopieren und zu vervollständigen. Ich beschäftige meine Hände in der Hoffnung, meinen Verstand abzulenken.
Das Schreiben hilft mir, so wie das Zeichnen von Karten seinerzeit Veritas geholfen hat. Die detailreiche Arbeit und die Konzentration, die dazu aufgebracht werden muss, lassen mich das drängende Verlangen der Sucht beinahe vergessen wie auch deren Nachwirkungen, unter denen jeder leidet, der ihr einst verfallen war. Man kann in solcher Arbeit versinken und sich selbst vergessen. Man kann darin sogar noch tiefer eintauchen und trifft dann auf zahlreiche Erinnerungen an dieses Selbst. Nur allzu häufig stelle ich fest, wie ich von einer Geschichte der Sechs Provinzen abgeirrt bin zu Leben und Taten des FitzChivalric. In diesen Erinnerungen sehe ich mich konfrontiert mit dem, der ich war und mit dem, der ich geworden bin.
Wenn man derart in eine Aufarbeitung der Vergangenheit vertieft ist, wird man überrascht sein, an wie viele Einzelheiten man sich zu entsinnen vermag. Nicht alle Erinnerungen, die ich heraufbeschwöre, sind schmerzlich. Das Leben hat mir wahrlich viele Freunde geschenkt und ihre Treue war größer, als ich es je hätte erwarten können. Mein Leben war von Schönheit und Freude erfüllt, was jedoch mein Herz und meine Seele nicht weniger auf die Probe gestellt hat als die traurigen und hässlichen Zeiten, die ich erlebt habe. Dennoch besitze ich, verglichen mit anderen, möglicherweise einen größeren Schatz an dunklen Erinnerungen; denn nur wenige dürften die Erfahrung teilen, den Tod im Kerker zu sterben oder im Inneren eines Sarges lebendig im Schnee zu sein. Der Verstand schaudert vor diesen Bildern. Es ist eine Sache, daran zu denken, dass Edel mich ermordete, eine andere, sich des Grauens der Tage und Nächte zu vergegenwärtigen, als er mich hungern und schließlich von seinen Schergen totschlagen ließ. Wenn ich es tue, gibt es Augenblicke, bei denen mir noch immer das Blut in den Adern gefriert, selbst nach all diesen Jahren. Ich erinnere mich an die Augen des Mannes und das Geräusch, als seine Faust meine Nase zermalmte. Ich habe immer noch einen ständig wiederkehrenden Traum, in dem ich darum kämpfe, aufrecht stehen zu bleiben und den Gedanken zu vermeiden, Edel in einem letzten Versuch zu töten. Ich erinnere mich, wie er mir mit dem Handrücken ins Gesicht schlug und die Haut aufplatzte. Davon ist mir die Narbe auf der Wange geblieben.
Niemals kann ich mir vergeben, zu welchem Triumph ich ihm damit verhalf, dass ich Gift nahm und starb.
Doch schmerzlicher als die Ereignisse, an die ich mich erinnere, empfinde ich jene, die für mich verloren sind. Als Edel mich tötete, löschte er mich vollkommen aus. FitzChivalric war für alle tot, und zerrissen waren die Bande zu den Menschen von Bocksburg, die mich gekannt
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