Achtung Klappe
Überfluß.
Ich weiß nicht, aber irgendwie konnte ich sie, trotz Ähnlichkeit mit Tante Olga, plötzlich nicht mehr so gut leiden.
„Hat Hunger...“ Wie sich das anhörte. Fast wie Tierquälerei. Hatte ich es nötig, mich zu rechtfertigen? Ich, der beste Pinselhalter aller Zeiten?
Sollte ich ihr sagen, daß ich diese struppige Promenadenmischung mit Kalbsknorpeln und Ochsenmaulsalat verwöhnte?
Daß er regelmäßig feinschmeckerte,
daß er auf meinem Bauch seinen Mittagsschlaf und am Ende meines Bettes die Nachtruhe verbringen durfte,
daß er eine eigene Kachelofenecke besaß,
daß er pro Tag mindestens drei Runden ums Karree marschierte, und
daß ich ihn bei Ermüdungserscheinungen über meine Schulter hängte?
Mit einem Wort: daß ich ihn liebte?!
Nein, Tante Olly mit Namen Schönrödel, ich werde es für mich behalten! beschloß ich. Wo käme ich hin, wenn ich jeder mächtigen Schönrödel meine Geheimnisse anvertrauen würde.
„Vielen Dank, Frau Schönrödel, sozusagen im Namen meines Hundes... Aber kommen wir nun zum Anlaß meines Besuchs. (Es ging immerhin um ein Blütenmeer von über dreihunderttausend!!!) Ich möchte etwas abholen!“
Ihre eben noch private Hundefütterungsmiene veränderte sich schlagartig zu einer dienstlichen Expreßreinigungsmiene.
Während ich das gelbe Papierchen aus meiner Tasche fischte, schrubbte sie sich an der Schürze das Fett von den Fingern. Dabei forschte sie:
„Können Sie mir sagen, was es ist?“
„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich soll das Zeug nur abholen. Ich bin, um ehrlich zu sein, ahnungslos wie ein frisch gezupftes Radieschen.“
Sie nahm die „Kinokarte“ entgegen und warf mir dabei einen unauffällig-forschenden Blick zu. Das „Radieschen“ schien sie etwas aus dem Konzept gebracht zu haben.
Ihr zweiter Blick galt der Nummer auf dem Abriß.
„Es ist die Zweihundertsiebenundfünfzig. Sehen wir in der Liste nach.“
Mit geübtem Fingerspiel ließ Frau Schönrödel die Seiten rückwärts tanzen, dabei murmelten ihre Lippen unablässig Zahlen.
Ein kurzes Aufblicken, der Anflug eines Lächelns:
„Gleich muß es kommen... zweihundertfünfzig...“.“die Seite kippte um, „hier ist es: zweihundertsiebenundfünfzig... es ist ein Anzug, der Herr...“Sicher wollte sie noch etwas sagen, doch irgendwas kam dazwischen. Ihr Lächeln verschwand, eine steile Falte teilte ihre riesige Stirn unter der Haarpyramide in eine rechte und eine linke Hälfte.
„Unglaublich...“ sagte sie laut und trotzdem nur zu sich. Denn gleich darauf wiederholte sie das Wort noch einmal, diesmal leiser und diesmal zu mir hin: „Unglaublich...“
„Wurde der Anzug aus Versehen zu Tode gereinigt?“ versuchte ich einen Scherz. Doch es war ein schlechter Scherz, die stirnteilende Falte vertiefte sich nämlich noch mehr.
„Der Anzug wurde bereits abgeholt!“
„Ohne Zettel?“ staunte ich.
„Das ist es ja eben! Paul!!!“
Ich beteuere an Eides Statt, daß mich so schnell nichts aus der Ruhe und zum Erschrecken bringt. Doch der „Paul!“ fuhr mir mit solcher Gewalt in die Ohren und unten an den Zehen wieder heraus, daß ich sekundenlang unter Strom stand.
Das Erschreckendste dabei war, daß mir Frau Schönrödel bei dieser Lautexplosion mitten ins Gesicht sah.
Der in Wirklichkeit gemeinte Paul erschien!
Bei Nepomuk, dem Kinderpieker, es war kein Paul, der sich da kreidebleich und wohl Furchtbares erwartend heranschob. Es war ein Paulchen, ein Paulimann oder noch präziser: ein Paulimännchen.
Noch kleiner als ich, höchstens die Hälfte wiegend und in einem überlangen bräunlichen Kaftan steckend, neigte er das grauhaarige Köpfchen zur Seite und stellte die albernste Frage, die er in diesem Augenblick stellen konnte:
„Hast du mich gerufen, Charlottchen?“
Auch das noch: Charlottchen. Das letzte „Lottchen“, dem ich begegnet war, gehörte der Gattung der Zugpferde an und entstammte einem alten holsteinischen Pferde-Adels-geschlecht.
Charlottchen schoß ihre Linke mit dem gelben Abholzettel mit solcher Wucht gegen den kleinen Paul, daß sie um ein Haar das Übergewicht verloren hätte.
„Hier, die Klara hat wieder was ohne Zettel rausgegeben!“
Paulchen schluckte, blieb auf Sicherheitsabstand und fiel kopfschüttelnd in Charlottchens Entrüstung ein:
„Na so was, wie kann sie nur?“
„Wie kann sie nur, wie kann sie nur?“ äffte Frau Schönrödel den Paul nach. „Ich werde ihr noch heute kündigen!“ Wieder fegte die Faust
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