Achtzig Gedichte
treten Engel mit kotgefleckten Flügeln./Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern.
Gleicht er als geflügeltes Wesen nicht dem Raben, der Fledermaus, so, wie der fromme Mönch dem Vogel auf der «Pilgerreise» nach Süden gleicht? Und fliegen die Raben nicht nach Norden?
Solche Querbezüge unter den Gedichten, Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Motiven wird der Leser mehr und mehr entdecken; zunehmend kenntlich wird dabei als ein Grundzug von Trakls Dichtung das Prinzip der Gegenbildlichkeit. Die Phantasie des Lesers kann sich bei der Lektüre an diesem Prinzip orientieren: zu jedem Motiv, dem man in einem Gedicht begegnet, ist eine Reihe ähnlicher und entgegengesetzter zu assoziieren. So erst wird das reiche, auf den ersten Blick nicht sichtbare Innenleben von Trakls Gedichten erfahrbar.
In
De Profundis
wartet an einem Herbstabend eine
sanfte Waise
auf ihren
himmlischen Bräutigam
; tot im Dornbusch wird sie von Hirten entdeckt. Der himmlische Bräutigam ist offenbarnicht erschienen, es kam stattdessen sein Gegenspieler, ein höllischer Bräutigam, zugleich der Antipode des Hirten: der wilde Jäger mit seinen Hunden. Im Gedichtentwurf ist das später ausgesparte mörderische Geschehen noch ausgeführt:
Hunde zefleischen den süÃen Leib.
Die lyrische Sageweise Trakls ist ein verkürzendes, andeutendes, aussparendes Sprechen; der Leser hat den Raum des Verschwiegenen selbst zu erkunden, die Andeutungen zu vernehmen, ihnen nachzugehen.
Ist nicht die Klangbeziehung zwischen den
Hirten
und der
Hirschkuh
in
Landschaft
auch eine Sinnbeziehung? Zu den genannten Hirten gehört ihr ausgespartes Komplement, das von ihnen beschützte Herdentier; das genaue Gegenbild der Hirschkuh? Und gehört nicht zu diesem Wildtier als ungenannter Bildpartner der grausame Jäger, das Gegenbild des Hirten? Erst jetzt läÃt sich erahnen, was es mit dem
ersterbenden Schrei
der Hirschkuh auf sich hat, erst jetzt zeigt sich auch die Sinnverwandtschaft zwischen der Schmiedeszene (die übrigens schon im Gedicht
Die junge Magd
begegnet) und der angedeuteten Szene am
Saum des Waldes.
Ein Vergleich dieses Gedichts mit dem Beginn von
Verwandlung des Bösen
wird weitere Aufschlüsse bringen.
Je mehr solche Motivverwandtschaften, Variationsketten, assoziative Zusammenhänge erfaÃt werden, desto besser erkennbar wird auch die Bedeutungsfracht, die ein Wort in einen Gedichtzusammenhang einbringt, seine Evokationskraft, die Fülle der Begleitvorstellungen, die es heraufruft. Immer weniger wird Trakls Lyrik als unzugänglich, hermetisch erscheinen. Und schlieÃlich werden die Gedichte Trakls sich als Strophen eines einzigen groÃen Gedichtes begreifen lassen.
Die Auseinandersetzung mit den dunklen Bezirken seiner Seele, mit dem Reich der Dämonen, der
Hölle im Herzen
, ist das Grundthema von Trakls Dichtung. Diese Hölle verursacht bei ihm einquälendes Gefühl der Schuld, treibt ihn zu bitterer Selbstanklage, weckt SelbsthaÃ. In einem Brief an Ludwig von Ficker schreibt er im Juni 1913:
Zu wenig Liebe, zu wenig Gerechtigkeit und Erbarmen, und immer zu wenig Liebe; allzuviel Härte, Hochmut und allerlei Verbrechertum â das bin ich. Ich bin gewiÃ, daà ich das Böse nur aus Schwäche und Feigheit unterlasse und damit meine Bosheit noch schände. Ich sehne den Tag herbei, an dem die Seele in diesem unseeligen von Schwermut verpesteten Körper nicht mehr wird wohnen wollen und können, an dem sie diese Spottgestalt aus Kot und Fäulnis verlassen wird, die ein nur allzugetreues Spiegelbild eines gottlosen, verfluchten Jahrhunderts ist.
Hassenswert und häÃlich erscheint das vom
Geist des Bösen
besessene Selbst, als ein gefallener Engel.
Nachts fand ich mich auf einer Heide,/Starrend von Unrat und Staub der Sterne
, schreibt der Dichter in
De Profundis.
Die eigene hassenswerte Gestalt begreift Trakl indessen als Spiegelbild des Jahrhunderts: Der gefallene Engel mit kotgefleckten Flügeln ist also nicht nur Selbstbildnis, sondern zugleich Bildnis des Menschen, der Zeit. Die Gedichte wollen nicht nur die individuelle Not Trakls zum Ausdruck bringen; sie gehen, wie er in einem Brief betont, über das
begrenzt Persönliche
hinaus, sind von
universeller Form und Art
, beanspruchen allgemeine Gültigkeit und Wahrheit. Die
animalischen Triebe
, so stellt Trakl schon in einem Brief von 1908 fest, regen sich nicht nur im eigenen
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