Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
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Daß eine Aushilfsstenotypistin eine neue Stelle antritt und dort gleich am ersten Tag Zeuge eines Leichenfundes wird, ist, wenn schon nicht einmalig, dann zumindest ungewöhnlich genug, um nicht mehr als Berufsrisiko durchzugehen. Fest steht, daß Mandy Price, mit neunzehn Jahren und zwei Monaten bereits anerkannter Star in Mrs. Crealeys Agentur »Nonplusultra«, am Morgen des 14. September, einem Dienstag, auf der Fahrt zum Vorstellungsgespräch beim Verlagshaus Peverell Press nicht mehr Herzklopfen verspürte als vor jedem anderen Job, ein Herzklopfen, das nie arg war und auch weniger der Sorge entsprang, sie könne die Erwartungen des künftigen Arbeitgebers nicht erfüllen, als vielmehr umgekehrt er nicht die ihren. Von der neuen Stelle hatte sie erfahren, als sie letzten Freitag gegen sechs in der Agentur vorbeischaute, um den Lohn für zwei Wochen stumpfsinniger Plackerei bei einem Direktor zu kassieren, der sich eine Sekretärin als Statussymbol hielt, ohne daß er ihre Fähigkeiten sinnvoll zu nutzen verstand. Um so mehr freute sie sich jetzt auf einen neuen, möglichst aufregenden Job, wenn auch vielleicht nicht gar so aufregend, wie er sich dann entpuppen sollte.
Mrs. Crealeys Agentur, für die Mandy schon seit drei Jahren arbeitete, war eigentlich bloß eine bescheidene Zwei-Zimmer-Wohnung über einem Zeitungs- und Tabakladen gleich hinter der Whitechapel Road – in günstiger Lage, wie sie ihren Mädchen und auch den Kunden gegenüber gern betonte, sowohl für die City als auch für die Bürotürme in den Docklands. Zwar hatte diese Nachbarschaft sich geschäftlich bisher noch in keiner Richtung ausgezahlt, aber während andere Agenturen im Strudel der Rezession untergingen, konnte Mrs. Crealeys kleines, unzulängliches Schiffchen sich immerhin, wenn auch schwankend, über Wasser halten. Wenn nicht gerade eins der Mädchen frei war und ihr zur Hand ging, führte sie die Agentur ganz allein. Das vordere Zimmer war ihr Büro, in dem sie unzufriedene Kunden beschwichtigte, Vorstellungsgespräche mit Neuzugängen führte und allwöchentlich den Einsatzplan zusammenstellte. Hinter dem Büro lag ihr privates Refugium, ausgestattet mit einem Schlafsofa, auf dem sie hin und wieder übernachtete, obwohl das gegen den Mietvertrag verstieß, ferner mit einer kleinen Bar, einem Kühlschrank, einer winzigen, verblendeten Einbauküche, einem großen Fernsehapparat und zwei Clubsesseln vor einem Gasofen, in dem hinter künstlichen Holzscheiten ein grellrotes Licht flackerte. Mrs. Crealey nannte diesen Raum ihre »Oase«, und Mandy gehörte zu den ganz wenigen unter ihren Mädchen, die dieses Allerheiligste betreten durften.
Vermutlich war es die Oase, die Mandy bei der Stange hielt, auch wenn sie sich nie und nimmer zu so einem Bedürfnis nach Nestwärme bekannt hätte, das einem Mädchen wie ihr kindisch und albern vorkommen mußte. Ihre Mutter hatte die Familie verlassen, als Mandy sechs Jahre alt war, und sie selbst hatte mit Ungeduld ihren sechzehnten Geburtstag herbeigesehnt, an dem sie sich endlich von einem Vater trennen konnte, der unter elterlicher Fürsorge kaum mehr verstand als die Beschaffung zweier Mahlzeiten pro Tag (die sie kochen mußte) und ihrer Kleidung. Vor einem Jahr hatte sie ein Zimmer in einem Reihenhaus in Stratford East gemietet, wo sie seitdem in ruppiger Kameraderie mit einer Freundin und einem Pärchen lebte; Hauptstreitpunkt war Mandys stures Beharren darauf, ihre Yamaha in dem engen Hausflur abzustellen. Aber für Mandy war die Oase hinter der Whitechapel Road, wo es nach Wein und chinesischem Essen vom Home-Service roch, wo der Gasofen zischte und wo sie sich in einem der beiden tiefen, zerschlissenen Sessel zusammenkuscheln und ein Nickerchen halten konnte, der Inbegriff dessen, was sie unter Geborgenheit und einem gemütlichen Zuhause verstand.
Die Sherryflasche in der linken und einen Notizzettel in der rechten Hand, kaute Mrs. Crealey so lange an ihrer Zigarettenspitze herum, bis die ihr in den Mundwinkel gerutscht war und dort, wie gewöhnlich dem Gesetz der Schwerkraft trotzend, klebenblieb. Mit zusammengekniffenen Augen überflog die Chefin ihre fast unleserliche Schrift.
»Wir haben einen neuen Kunden, Mandy, Peverell Press. Ich hab’ im Verlagsverzeichnis nachgeschlagen. Er ist einer der ältesten, vielleicht sogar der älteste Verlag von ganz England, Gründungsjahr 1792. Liegt direkt an der Themse: Peverell Press, Innocent House, am Innocent Walk in Wapping. Falls du
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