Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
entdecken. Rechts und links vom Hauptgebäude stand je ein kleines, schlichtes Haus, beide etwas zurückversetzt wie zwei arme Verwandte, die respektvoll Abstand halten. Mandy, die sich jetzt vor dem ersten davon, der Nummer 10, befand (ohne daß weit und breit etwas von Nummer 1 bis 9 zu sehen gewesen wäre), sah, daß zwischen diesem und dem Haupthaus die Innocent Passage verlief, ein kleiner Durchgang, den ein schweres Eisentor zur Straße hin versperrte und den die Verlagsangestellten offenbar als Parkplatz benutzten. Im Augenblick stand das Tor offen, und Mandy sah, wie drei Männer mittels eines Flaschenzugs große Pappkartons aus einem der oberen Stockwerke herunterließen und auf einen Kleintransporter luden. Einer der drei, ein schmächtiges dunkles Kerlchen, zog seinen zerbeulten Holzfällerhut und machte Mandy eine spöttische Verbeugung. Auch die beiden anderen musterten sie mit unverhohlener Neugier. Mandy klappte das Visier hoch und bedachte alle drei mit abschätzigem Blick.
Das Nebengebäude auf der anderen Seite war durch die Innocent Lane vom Haupthaus getrennt. Hier sollte sich, nach Mrs. Crealeys Beschreibung, der Eingang zum Verlag befinden. Mandy stieg vom Motorrad und schob die Maschine auf der Suche nach einem möglichst unauffälligen Parkplatz übers Kopfsteinpflaster. Und dann erhaschte sie den ersten Blick auf den Fluß, ein wellenbewegtes Glitzerband unter aufklarendem Himmel. Sie parkte die Yamaha, nahm den Sturzhelm ab, kramte ihren Hut aus der Satteltasche, setzte ihn auf und ging, den Helm unterm Arm und ihre Tasche geschultert, aufs Wasser zu, wie magisch angezogen vom starken Sog der Gezeiten und dem schwachen, salzigen Duft des Meeres.
Sie kam auf eine geräumige, mit schimmernden Marmorfliesen ausgelegte Terrasse, eingefaßt von einem niedrigen Gitter aus filigranem Schmiedeeisen, dem je eine Glaskugel, getragen von zwei ineinander verschlungenen Delphinen, als Eckpfeiler diente. Von einer Öffnung inmitten der Gitterfront führte eine Treppe zum Fluß hinunter. Sie konnte das rhythmische Plätschern des Wassers gegen das steinerne Fundament hören. Langsam, in trancehaftem Staunen, so als hätte sie den Fluß noch nie gesehen, ging Mandy dem Geräusch nach. Und dann lag sie vor ihr, eine weite, wogende, sonnengefleckte Wasserfläche, die alsbald vor ihren Augen von einer auffrischenden Brise zu millionenfachem Wellenspiel angeregt wurde, ja sich gleichsam wie ein rastloses Binnenmeer gebärdete, um dann, kaum daß der Wind abflaute, wieder zum geheimnisvoll unbewegten, glatten Spiegel zu erstarren. Mandy drehte sich um und erblickte es zum erstenmal wirklich, das hoch aufragende Wunder von Innocent House, vier Stockwerke aus farbigem Marmor und goldglänzendem Stein, der sich dem Wechsel des Lichts anzupassen schien, indem er bald heller wurde, bald in noch satterem Goldton erstrahlte. Der stattliche, überwölbte Haupteingang war von schmalen Bogenfenstern flankiert, darüber erhoben sich zwei Stockwerke mit steingemeißelten Balkonen und, ihnen vorgelagert, eine Marmorkolonnade, deren schlanke Säulen anmutige Kleeblattbögen trugen. Über dem Portikus mit seinen hohen Bogenfenstern lag, unter dem Fries des Flachdachs, noch ein letztes, schmuckloses Obergeschoß. Mandy verstand nichts von den architektonischen Feinheiten, aber sie hatte schon ähnliche Häuser gesehen: als Dreizehnjährige auf einer ausgelassenen, schlecht organisierten Klassenfahrt nach Venedig. Von der Stadt hatte sich ihr wenig mehr eingeprägt als der hochsommerliche Gestank der Kanäle, vor dem die Kinder sich, in gespieltem Ekel kreischend, die Nase zuhielten, und die überfüllten Museen und Paläste, die man sie bewundern hieß, obschon sie doch ganz baufällig wirkten und aussahen, als könnten sie jeden Moment einstürzen und im nächsten Kanal versinken. Mandy hatte Venedig gesehen, als sie noch zu jung und vor allem unzureichend darauf vorbereitet gewesen war. Hier im Angesicht von Innocent House spürte sie zum erstenmal ein Echo auf jenes Kindheitserlebnis, eine Mischung aus Ehrfurcht und Entzücken, die sie überrascht und auch ein bißchen erschrocken zur Kenntnis nahm.
Eine Männerstimme weckte sie aus ihrer Trance: »Suchen Sie jemand?«
Als sie sich umdrehte, sah sie einen Mann durchs Gitter spähen, der wie durch Zauberei aus dem Fluß aufgetaucht zu sein schien. Doch als sie näher trat, erkannte sie, daß er im Bug eines Motorboots stand, das links von der Treppe festgemacht war. Er
Weitere Kostenlose Bücher