Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
Ihr? Mit feinem Garn, nicht mit Wolle. Aus einem Viereck kann man alles Mögliche machen.«
    Um fünf Uhr wurde uns von Koch Chinery etwas zu essen gebracht: ein Teller mit Koteletts in Soße, ein Eintopf aus Kohl und Kartoffeln und eine Flasche Apfelmost.
    Hungrig setzten wir uns an den kleinen Tisch am Fenster und machten uns mit großem Appetit über Fleisch und Most her. Errötend gestehe ich: Wir aßen so gierig, und das Zimmer war derart von unserem geräuschvollen Schmatzen und Schlürfen erfüllt, dass wir nicht die erstickten Sterbelaute hörten, die Violet von sich zu geben begann. Die Katze aber hörte sie und floh aus dem Raum. Ich achtete jedoch nicht darauf. Ich dachte, wir hätten das Tier vertrieben.
    Erst als ich meinen Teller sauber gekratzt und mir den Mund mit der feinen Damastserviette abgewischt hatte, blickte ich hinüber zum Bett und sah Violet mit offenen Augen und heruntergefallener Kinnlade daliegen. »Sie ist gegangen«, sagte ich. »Sie ist gegangen.«
    Wir traten an ihr Bett, und ich schloss ihr die Augen und küsste sie auf die Stirn, dann band Mrs. McKinley ihr das Kinn mit einem festen Leinentuch hoch. Nachdem mit diesem Hochbinden ihr Werk getan war, ließ sie sich steif auf ihre Knie nieder und umfasste das Holzkreuz, das sie stets um den Hals trägt.
    »Heilige Jungfrau Maria«, sagte sie, »bitte nimm die Seele von Lady Bathurst in deinem liebenden Herzen auf. Vergib ihr all ihre Schuld. Lass sie in Frieden ruhen. Und wenn es dir in deiner unendlichen Güte recht ist, dann betrachte den guten Sir Rabbit, der auch nur ein Mensch ist, mit wohlwollenden Augen.«
    Der Abend brach über uns herein, sehr sanft und strahlend, und all die weißen Rosen im Garten leuchteten im schwindenden Licht.
    Ich ging hinunter zum See und versuchte mir das rot gestrichene Ruderboot vorzustellen, in dem ich einst Violet beglückt hatte, bevor ich ins Wasser fiel. Ich musste wieder daran denken, dass meine Kniehose sich beim Fallen um meine Waden gewickelt und mich daran gehindert hatte, ordentliche Schwimmstöße zu machen; und einen Moment lang hatte ich gedacht, ich würde in dem eisigen See untergehen und ertrinken.
    Dann sah ich, wie sich ein Ruder herabsenkte, und ich packte es und merkte, wie das Boot über mir zur Seite kippte, und dachte, jetzt würde Violet herabstürzen, und ihre gebauschten Röcke würden über den Wasserpflanzen schweben, doch sie fiel nicht. Mannhaft hielt sie das Ruder fest, und ich klammerte mich ebenfalls daran, und mein Kopfhüpfte auf und ab, und plötzlich spürte ich, dass mir die Hose von den Beinen rutschte und wegtrieb.
    »Violet!«, schrie ich, halb erstickt und wie ein Walfisch Wasser speiend, »ich bin unten nackt!«
    »Das sind wir doch alle!«, rief sie, und ihr Lachen hallte durch die laue Luft.

22
    Langsam vergeht der Sommer.
    Ich dämmere in meinem Bett dahin, ein Sklave von Fieber und Träumen. Zu Will, der mich zum Aufstehen drängt, sage ich: »Ich kann nicht. Ich habe zu viel Tod gesehen. Ich muss, um mir das Leben zu erhalten, hier liegen bleiben, muss meine Gedanken ordnen. Bitte sorg dafür, dass ich in Ruhe gelassen werde.«
    Das Augustwetter ist warm und schön, und die Bäume, die ich durch mein Fenster sehen kann, haben noch keine Herbstfarben angenommen, auch wenn ich an der Art, wie die Blätter sich raschelnd bewegen, erkenne, dass alle Frische aus ihnen gewichen ist. Sie haben ihre Zeit gehabt und werden bald fallen. Und ich denke darüber nach, dass meine Seele und mein Körper sich stets nach Sommer und Wärme gesehnt haben und dass ich jetzt, im Jahre 1684, die schöne Jahreszeit habe vorübergehen lassen, ohne Trost oder Vergnügen daraus zu ziehen. Und halb begreife ich, wie dumm das ist; ich sollte durch meinen Garten wandeln, um den letzten Duft der Rosen einzuatmen, oder in einem leichten Galopp die Kastanienalleen entlangreiten oder Picknick-Partys ausrichten. Doch für nichts von alledem kann ich die nötige Begeisterung aufbringen.
    Ich sage zu Will: »Ich bin ein Blatt, Will, zum Fallen verurteilt.«
    Und Will erwidert: »Beleidigt mich nicht mit poetischem Quatsch, Sir Robert. Das ist Eurer nicht würdig.«
    »Meiner nicht würdig?«
    Darüber grübele ich: über meine Würde und meinen Wert in der eitlen Welt.
    Ich lasse Clarendon sterben. Ich lasse Violet sterben. Die Gastfreundschaft, die ich Ambrose erwies, war jämmerlich und unwürdig. Ich könnte sogar Louise verloren haben. Und der König, der so beständig in meinem

Weitere Kostenlose Bücher