Adler und Engel (German Edition)
haben. Dass es mir leid tut.
An der Bezirksgrenze bleibe ich stehen und sehe einen Moment lang die Straße hinunter, die zum Autobahnzubringer führt. Meine Lunge schmerzt und rasselt, als würde sie langsam mit Wasser oder Blut volllaufen. Ich ertrinke von innen, ich hätte nicht anhalten sollen, jetzt kann ich nicht mehr rennen. Mit großen, unkontrollierten Schritten, beide Hände in die Seiten gepresst, kämpfe ich mich die Steigung in den Sechzehnten hinauf.
Als das Metalltor endlich in mein Blickfeld gerät, habe ich keine Eile mehr.
Die Kastanie steht mit vor Abscheu erhobenen Armen im Matsch, der Abfluss in der Hofmitte ist verstopft, dem Ascona reicht das Wasser bis zu den Radkappen. Für einen Moment halte ich den nach vorn geklappten Fahrersitz für den Körper eines Menschen, der in Verzweiflung die Stirn auf das Lenkrad senkt. Überall schwimmen ausgerissene Seiten aus Claras Ordner, auf jeder einzelnen ist die Tinte zu einem anderen Aquarell verlaufen.
Die Schuppentür steht sperrangelweit offen, die Befestigung des Riegels ist aus dem Holz gerissen und hängt samt Vorhängeschloss und herausstehenden Schrauben am Rahmen. Ob die Tür von innen oder von außen geöffnet wurde, kann ich nicht erkennen.
Ich schaue hinein. Es sieht alles aus wie immer, aber jetzt wirkt es anders auf mich, verlassen, vergangen, als wäre seit Jahren niemand hier gewesen. Das Wasser ist über die Schwelle gestiegen und füllt den Raum zwischen Zementboden und Holzdielen zur Hälfte. Die Mäuse fallen mir ein, und ich frage mich, wohin sie sich aus ihren Nestern gerettet haben, ihre ganze Welt da unten steht unter Wasser. Auf den Dielen und im Wasser liegen verstreute Dokumente und unsere Klamotten, irgendwo entdecke ich auch ein Stück von Claras Perücke. Bücher am Boden und in offenen Kartons, leere BILLA-Tüten, vom Kaffee geschwärzte Tassen und Gläser, rostiges Besteck. Und überall, als hätte ein Schwarm rot-weißer Schmetterlinge sich hier niedergelassen, zerknüllte Zigarettenpackungen. Es ist ganz still bis auf das Rauschen des Regens, der hier zwischen den Hofwänden gleichmäßiger fällt als auf der Straße. Der Schuppen sieht irgendwie tot aus, wie ein Arrangement, ein Ausstellungsstück als Beispiel für den Zustand einer ganzen Stadt nach der Katastrophe, der Ort, an dem der letzte Mensch gestorben ist.
Als ich endlich eintrete, kommt der Hund aus irgendeiner Ecke, ich wehre ihn ab. Er ist allein. Sie ist weg.
Clara ist weg.
Ein paar Mal sage ich es laut in den Raum hinein, dabei zittere ich wie im Fieber. Die Augen brennen, als wäre Säure hineingetropft, meine Atmung arbeitet nur noch auf ausdrücklichen Befehl.
Weder von ihr noch von denen, die sie geholt haben könnten, liegt hier eine Nachricht für mich. Ich betrete die Dielen, bei jedem Schritt quillt Wasser aus meinen Schuhen. Mit beiden Armen fege ich die Papierschichten vom Tisch, der DAT-Recorder splittert unter meinen Füßen. Nichts. Ich schaue durch die Türöffnung in den Regen. So viel sieht wahrscheinlich auch ein Goldfisch beim Blick aus dem Aquarium. Ich könnte hier eine Weile hin und her schwimmen, auf dem Hinweg den Rückweg vergessen und auf dem Rückweg den Hinweg und mir einbilden, ich sei im offenen Meer. Stattdessen hebe ich den Spiegel vom Boden auf, betrachte mein nasses Gesicht und kämme mich mit einer Gabel. Ich lache vor Ekel.
Die drei Ameisenfrauen klemme ich mir unter den Arm, ich finde das Küchenmesser, mit dem ich Claras Haare abgeschnitten habe, und gehe zurück in den Hof. Es ist düster wie bei Einbruch der Nacht, ist es schon so spät, mir fehlt jedes Gefühl für die Tageszeit. Ich wende die Bilder hin und her, finde den Stempel der Galerie, die Unterschrift des Künstlers, aber keine Nummer. Der Regen perlt von der Ölfarbe ab, die Frauen schwitzen und weinen. Ich knie mich ins Wasser. Erst mit den Fingernägeln, dann mit dem Messer kratze ich an der Farbe, die Klinge färbt sich rot und blau, dann rutscht sie mir aus und fährt in die Leinwand hinein. Das Kinn einer Ameisenfrau ist durchschnitten. Vor Wut schlage ich die Hand ins Wasser, dass es hoch aufspritzt. Jessie hätte geschrien, mit den Fäusten auf meine Brust, auf meine Arme getrommelt und in den folgenden Nächten nicht geschlafen. Ich reiße an der Leinwand, jetzt kommt es nicht mehr drauf an, schneide sie bei allen drei Bildern mit dem Messer von den Holzrahmen und in schmale Streifen, die eine Weile auf der Oberfläche schwimmen,
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