Adler und Engel (German Edition)
Pfeffermühle.
Siehst du den Großteil Europas verwüstet, frage ich, die Überlebenden betrogen, geschändet und gedächtnislos?
Nein, sagt sie.
Ich aber, antworte ich.
Es vergeht die zweite Hälfte der Ewigkeit. Wir könnten genauso gut getrennt voneinander sitzen, jeder in seiner eigenen Küche, grübelnd oder vollkommen leer, Löcher in die Luft starrend, in genau dieser Haltung, aber an verschiedenen Orten. Dann hätten wir auch nicht weniger miteinander zu tun als jetzt. Sie schiebt möglichst viele Finger durch den Henkel ihrer Kaffeetasse, ich zeichne mit dem Löffel Fluchtpläne in das Kästchenmuster der Tischdecke.
Wie hieß sie überhaupt, fragt sie.
Ich erschrecke, obwohl ich die ganze Zeit darauf gewartet habe, dass sie wieder mit dem Sprechen anfängt.
Das geht dich einen Scheißdreck an, sage ich.
Zeig mir das Zimmer, wo es passiert ist.
Einen Scheißdreck zeige ich dir.
Bitte, sagt sie.
Ich werde das Zimmer nie wieder betreten, sage ich.
Du willst ein Zimmer deiner eigenen Wohnung nie wieder betreten, fragt sie, und das in einer Drei-Zimmer-Wohnung?
Halts Maul, brülle ich.
Ich lasse eine Hand flach auf den Tisch fallen, dass der Kaffeelöffel auf den Boden hüpft.
Dann hast du nur noch zwei Zimmer, sagt sie.
Nur noch eins, flüstere ich, es ist in einem Durchgangszimmer passiert.
Das solltest du dir noch mal überlegen, sagt sie.
Ich erhebe mich leicht von meinem Stuhl, um besser ausholen zu können, und schlage ihr mit dem Handrücken quer über den Mund. Ihr Kopf wird zur Seite geschleudert, und der Zopf, den sie gerade erst locker zusammengebunden hat, löst sich unterwegs, die Haare fliegen durch die Luft und fallen wirr über Gesicht und Schultern. In Zeitlupe hätte das mit Sicherheit gut ausgesehen. Wie eine Shampoo-Werbung. Ich stehe auf und gehe zum Fenster, um ihr Zeit zu geben, ihr Haar wieder in Ordnung zu bringen. Rechts unten in der Ecke sind drei Marienkäfer in einem tüllartigen Spinnennetz verendet, alle mit der gleichen Anzahl von Punkten auf den Rücken. Ich frage mich, ob irgendeine Spinne auf der Welt in der Lage ist, an das Weiche, Essbare in ihrem Innern heranzukommen.
Beim nächsten Blickkontakt hat das Radiomädchen Flecken im Gesicht, an Stellen, wo ich sie gar nicht getroffen habe, und in ihrem rechten Auge, das wie Wasser ausgesehen hat, mischt sich etwas Rot ins Blau. Jetzt sieht es aus wie Wasser, in dem irgendwo ein Verletzter schwimmt. Das erinnert mich an den Mond und ich sehe hinaus. Er hat sich inzwischen von seinem Blutsturz erholt, ist hellorange und kleiner geworden und schärfer konturiert. Er ist hoch aufgestiegen, den Sternen zu.
Im nächsten Satz, den sie sagt, kommt das Wort »Diplomarbeit« vor. Kurz denke ich darüber nach, ihr noch einmal ins Gesicht zu schlagen, aber die Vorstellung hat nicht den geringsten Reiz. Ich setze mich wieder hin.
Noch Kaffee, frage ich.
Orangensaft, wimmert sie.
Ihr Tonfall erinnert mich viel zu sehr an Jessie, die auch immer gewimmert hat, wenn sie nicht bekam, was sie wollte. Um mich von dem Gedanken abzulenken, konzentriere ich mich auf meine Mundhöhle. Mein Rachenraum schmeckt wie das Wartezimmer eines Internisten. Steril. Gaumen, Zunge, Lippen taub, ich werde lallen bei den nächsten Worten, ich hoffe, dass mir der Speichel nicht aus dem Mund trieft. Alles ist toll. Alles wird immer toller, alles ist ohnehin nur ein Spiel, alles ist alles. Und Erinnerungen sind einfach nur wie Fernsehen.
Ich lächele die Frau an meinem Küchentisch an, es ist ein ehrliches Lächeln, und als sie zurücklächelt, vorsichtig, wegen der geschwollenen Lippe, fange ich an zu strahlen. Wie 1000 Watt, wie Halogen. Toll. Ich bin toll. Ich denke darüber nach, sie »Baby« zu nennen.
Was hast du gerade gesagt, Baby, frage ich.
Orangensaft, wiederholt sie.
Nein, sage ich freundlich, noch davor.
Dass du ein Thema wärst für meine Diplomarbeit.
Oh, sage ich, du arbeitest nicht nur, du erwirbst auch Bildung. Das finde ich toll. Hast du Zigaretten?
Jetzt werde ich redselig. Sie beäugt mich misstrauisch.
Willst du mich verarschen?
Nein, sage ich, ich finde das wirklich klasse. Studieren ist super. Was studierst du?
Interessiert schaue ich ihr ins Gesicht. Ihre Lippe schwillt weiter an, das steht ihr gut, meine Lippen sind möglicherweise auch geschwollen, jedenfalls hängen sie herunter, das ertaste ich mit den Fingerspitzen. Komplett taub. Beim Sprechen gerät mir ständig die Unterlippe zwischen die Zähne, sie
Weitere Kostenlose Bücher