Adler und Engel (German Edition)
das Radio nicht lief, wusste ich, dass sie auf Sendung war. Es war Mittwochnacht zwischen Mitternacht und eins. Mir war nicht ganz klar, was ich tat. Als sich jemand meldete, erschrak ich fürchterlich. Trotzdem nannte ich dem Telephonisten das Thema meines Anrufs und wurde sofort durchgestellt.
Sie fing mit ihren Begrüßungsformeln an, ich ließ sie nicht ausreden. Ich sagte ihr, dass ich von einem Telephongespräch erzählen wollte, das auf dem Apparat geführt worden war, von dem aus ich jetzt anrief.
Wie lange ist das her, fragte Clara.
Acht Wochen, und jetzt halt die Fresse und lass mich reden, sagte ich.
Okay, sagte Clara.
Weil es mich aufwühlte, Jessies Namen zu nennen, beschloss ich, »meine Freundin« zu sagen. Das klang in meinen eigenen Ohren, als würde ich von einer fremden Person erzählen.
Nicht ich hatte diesen Apparat in der Hand, sondern meine Freundin. Ich saß in der Kanzlei und hatte sie angerufen, um zu sagen, dass es spät werden würde. Meine Freundin sprach nicht viel, sie gurrte eher.
Ein oder zwei Stunden, mein Kleines, sagte ich.
Hm – hm – hk-hk-hk, machte meine Freundin.
Komm, nicht meckern, sagte ich.
Wann kommst du denn?
Sie zog jeden Vokal unnatürlich in die Länge.
Bald, sagte ich, gleich.
In den Wochen davor war es noch schlimmer gewesen als sonst, man konnte tageweise kein vernünftiges Wort mit ihr wechseln. Natürlich war sie süß. Auch anstrengend. Vor allem aber machte ich mir Sorgen.
Cooooper, sagte sie, ich glaube, die Tiger sind wieder da.
Das ist doch Unsinn, sagte ich, hör auf damit.
Du kommst doch wiiiieder, oder?
Natürlich komme ich wieder, sagte ich, spinn nicht rum.
Ich spinne nicht, sagte sie.
Dann fiel der Schuss. Erst erkannte ich ihn gar nicht als ein Geräusch, er fuhr mir wie ein Messer ins linke Ohr, der Schmerz war scharf und schnell, und danach begann es zu pfeifen. Ich besaß die Geistesgegenwart, den Hörer blitzschnell ans andere Ohr zu wechseln, und so hörte ich gerade noch das dumpfe Aufschlagen eines Körpers und gleich darauf das harte Klappern, als der Apparat, den meine Freundin gehalten hatte, über den Boden schlitterte. Dann war Stille. Die Leitung war nicht tot, aber es war still. Ganz leise das Winseln eines Hundes. Ein paar Mal rief ich ihren Namen. Halbherzig. Manchmal heißt es, der Schock würde die Dinge dämpfen und einen am Verstehen hindern. Ich wusste alles sofort. Ich wusste, dass es zu spät war. Ich wusste nur nicht, warum sie es getan hatte.
Zu Hause fand ich sie. Das Telephon hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen.
Und mit dem Telephon rufst du jetzt bei mir an, fragte Clara, da muss doch Blut und Gehirn dran gewesen sein.
Für ihre Verhältnisse klang sie aufgeregt.
Das stimmt, sagte ich. Sie hat sich ins Ohr geschossen.
Dann legte ich auf, um mich zu übergeben.
Der Wecker piepst, ich schreie ihn an. Nachdem das Zopfband hinter dem Schränkchen verschwunden ist, schleudere ich das Telephon auf den Boden, dass es über die Dielen bis in die Küche rutscht und Akku und Plastikdeckel vom Akkufach in verschiedene Ecken fliegen. Ich habe es schon oft auf diese Art hingeworfen. Es geht nicht kaputt. Nur der Akku fliegt raus und manchmal nicht einmal das.
Ich gehe zum Kühlschrank und sniefe so heftig, dass meine Nase zu bluten anfängt. Es läuft mir über das Kinn und in den Hemdkragen. Ich wische es nicht ab. Schon wieder drei Minuten um, ich schreie dem Wecker zu, diesmal vom Wohnzimmer aus, wo ich mich auf das Matratzenlager werfe, den Kopf nach hinten über den Rand des Polsters klappen lasse und nur noch der Pfeife lausche in meinem linken Ohr, die mich wissen lässt, dass Jessie an mich denkt.
Mit Hilfe von Wandkalender und Armbanduhr versuche ich mich zu orientieren. Die Berechnungen ergeben Montag und Anfang eines Monats, den ich noch weit vor mir vermutet hätte. Damit ist es nur noch eine Frage von wenigen Tagen, möglicherweise wenigen Stunden, bis die Firma anruft. Und dann wird offiziell, dass ich es nicht packe. Dass es ohne Jessie keinen Job mehr gibt, kein Geldverdienen, kein normales Leben. Damals, als sie bei mir ankam, dachte ich noch, dass es MIT ihr kein normales Leben mehr geben könne. Das ist der Humor des Schicksals, ich zwinge mich zu lachen:
Ha ha ha.
Als das Radiomädchen das nächste Mal bei mir auftaucht, um ihr Zopfband abzuholen, habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich werde nicht versuchen, ein neues Leben anzufangen. Für das, was Jessie getan hat, fehlt
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