Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect
Körper quillt aus seinem langen Mantel, der wegen der ausgebeulten Taschen seltsam formlos wirkt.
»Tut mir Leid, dass ich zu spät bin. Ist was dazwischengekommen. « Er sieht sich im Wartezimmer um, nach wie vor unsicher, ob er eintreten soll.
»Zwei Wochen lang ist etwas dazwischengekommen?«
Er sucht meinen Blick und wendet sich wieder ab.
Ich bin es gewöhnt, dass Bobby abwehrend und verschlossen ist, doch dieses Mal ist es anders. Anstatt seine Geheimnisse zu wahren, erzählt er mir Lügen. Als ob man jemanden die Fensterläden vor der Nase zuschlagen und dann leugnen würde, dass sie überhaupt existieren.
Ich mustere ihn mit einem Blick – seine Schuhe sind geputzt,
seine Haare gekämmt. Er hat sich heute Morgen rasiert, doch der dunkle Schatten ist schon wieder da. Seine Wangen sind von der Kälte gerötet, während er gleichzeitig schwitzt. Ich frage mich, wie lange er draußen herumgelungert und versucht hat, den Mut aufzubringen, mich zu sehen.
»Wo bist du gewesen, Bobby?«
»Ich habe Angst bekommen.«
»Warum?«
Er zuckt die Achseln. »Ich musste weg.«
»Wohin bist du gefahren?«
»Nirgendwohin.«
Ich spare es mir, ihn auf den Widerspruch hinzuweisen. Er steckt voller Widersprüche. Seine ruhelosen Hände suchen ein Versteck und verschwinden in seinen Taschen.
»Möchtest du deinen Mantel ausziehen?«
»Nein, nicht nötig.«
»Nun, dann setz dich wenigstens.« Ich weise mit dem Kopf auf mein Behandlungszimmer. Er geht hinein, bleibt vor dem Bücherregal stehen und studiert die Titel. Die meisten Bücher sind über Psychologie und tierisches Verhalten. Schließlich hält er inne und tippt auf den Rücken von Siegmund Freuds Traumdeutung .
»Ich dachte, Freuds Ansichten wären mittlerweile ziemlich diskreditiert.« Er hat den Hauch eines nordenglischen Akzents. »Er konnte nicht mal den Unterschied zwischen Hysterie und Epilepsie erkennen.«
»Es war bestimmt nicht eine seiner besten Diagnosen.«
Ich weise auf den Stuhl, und Bobby zwängt sich hinein, sodass seine Knie seitlich zur Tür zeigen.
Außer meinen Notizen finden sich in seiner Akte kaum Unterlagen. Ich habe die Überweisung, einen Gehirnscan und den Brief eines Allgemeinmediziners aus dem Norden Londons. Darin ist von »irritierenden Albträumen« und dem Gefühl die Rede, »die Kontrolle zu verlieren«.
Bobby ist zweiundzwanzig und hat keine Vorgeschichte von Geisteskrankheiten oder Drogenmissbrauch. Er ist überdurchschnittlich intelligent, körperlich gesund und lebt in einer langjährigen Beziehung mit seiner Verlobten Arky.
Ich habe einen rudimentären Lebenslauf – geboren in London, an staatlichen Schulen ausgebildet, mittlere Reife, Abendschule, Gelegenheitsjobs als Kurierfahrer und Lagerist. Er und Arky leben in einem Hochhauskomplex in Hackney. Offenbar war es Arky, die ihn überzeugt hat, Hilfe zu suchen. Bobbys Albträume wurden schlimmer. Er wachte nachts schreiend auf, stürzte sich in dem Bemühen, seinen Träumen zu entfliehen, aus dem Bett und krachte gegen die Wände.
Vor dem Sommer hatte ich den Eindruck, wir würden Fortschritte machen. Dann verschwand Bobby drei Monate lang, und ich glaubte, er würde nie mehr zurückkommen. Vor fünf Wochen ist er dann, ohne Termin und Erklärung, wieder aufgetaucht. Er wirkte glücklicher. Er schlief besser. Die Albträume waren nicht mehr so schlimm.
Jetzt stimmt irgendwas nicht. Er sitzt reglos da, doch seinem unsteten Blick entgeht nichts.
»Was ist passiert?«
»Nichts.«
»Stimmt zu Hause irgendwas nicht?«
Er blinzelt. »Nein.«
»Was dann?«
Ich lasse das Schweigen für mich arbeiten. Bobby zappelt hin und her und kratzt sich die Hände, als ob irgendwas seine Haut gereizt hätte. Minuten verstreichen, und er wird immer erregter.
Ich stelle ihm eine direkte Frage, um ihn zum Reden zu bringen. »Wie geht es Arky?«
»Sie liest zu viele Zeitschriften.«
»Warum sagst du das?«
»Sie will ein modernes Märchen. Den ganzen Scheiß, den sie
in Frauenzeitschriften schreiben, wissen Sie – wo man erzählt kriegt, wie man multiple Orgasmen hat, seine Karriere verfolgt und gleichzeitig eine perfekte Mutter ist. Das ist alles Mist. Echte Frauen sehen nicht aus wie Models. Echte Männer kann man sich nicht aus Zeitschriften ausschneiden. Ich weiß nicht, was ich nun sein soll – ein New-Age-Mann oder ein Mann-Mann. Sagen Sie’s mir! Soll ich mit den anderen Jungs saufen oder bei traurigen Filmen weinen? Rede ich über Sportwagen oder die Modefarben der
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