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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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das Blut und die Toten, sah Granville, noch immer über den vierten Mann gebeugt, sah Yvonne, die sich ihm zuwandte … Er reagierte erstaunlich schnell, wirbelte herum und stürmte fort, nach draußen, zu den anderen Menschen. Ein Schrei erklang, gefolgt von einigen Worten, die Raffaele nicht verstand, und dann verstummte der Mann, als Yvonne die Hand bewegte. Aber es war zu spät. Die anderen Menschen … Sie wussten jetzt, dass etwas geschehen war.
    Granville und Yvonne tauschten sich lediglich durch einen Blick aus, doch Raffaele war nun gewachsen und verstand mehr als zuvor. Von Beeinflussung war die Rede, von Manipulation menschlicher Wahrnehmung, aber so etwas kostete Kraft, und Kraft war kostbar - sie wurde in Paris gebraucht, für den letzten, entscheidenden Schritt.
    Granville griff in die Tasche, holte eine Pistole hervor, richtete sie auf Albert und drückte ab. Es knallte laut, und der Fahrer des ersten Wagens fiel, fügte dem Blut auf dem Boden sein eigenes hinzu. Yvonne war sofort neben ihm und fing mit ihrem Mund die kleine graue Wolke auf, die zwischen den Lippen des Toten hervorkam. Als sie Raffaeles Blick bemerkte,
sagte sie: »Du bekommst bald mehr. Genug für alle Erinnerungen und dein wahres Selbst.«
    Draußen schienen die Wolken noch tiefer zu hängen, und erste Regentropfen fielen, groß und kalt. Schreiende Menschen rannten davon, und Raffaele stellte fest, dass Granville und Yvonne gar nicht versuchten, sie zu beeinflussen. Zwei Schüsse in die Luft genügten, um aus der Furcht Panik werden zu lassen - die Menschen flohen, ohne dass Granville und Yvonne Gebrauch von ihrer Kraft machen mussten.
    Bis sie den wartenden Mercedes fast erreicht hatten.
    Zwei Männer in Uniform näherten sich von der Seite, mit gezogenen Waffen, und einer von ihnen rief: »Bleiben Sie stehen und heben Sie die Hände!«
    Sie sprachen Französisch, und Raffaele verstand sie mühelos. Yvonne ging weiter, ohne auf die beiden Polizisten zu achten, und Granville hob die Hand mit der Pistole. Wieder fiel ein Schuss, und einer der beiden Männer warf die Arme hoch und ging zu Boden. Kurzer, heftiger Schmerz flammte dabei auf, wie ein Licht in der Nacht, und Raffaele empfing einen Teil dieses Lichts, nahm es in sich auf und fühlte, wie es ihm ein wenig Kraft gab.
    Dem zweiten Polizisten gelang es, den Abzug seiner Waffe zu betätigen, bevor auch ihn eine Kugel traf. Sie schlug durchs Auge ins Gehirn, und eine Fontäne aus Blut spritzte, als der Mann aufs Pflaster fiel, noch ein letztes Mal zuckte und sich dann nicht mehr rührte. Ein zweites Lebenslicht blitzte, doch diesmal bekam Raffaele nichts davon ab. Yvonne nahm es mit mentalen Händen und leitete es an Granville weiter, der wenige Meter neben dem Wagen kniete. Er öffnete die Anzugjacke und starrte auf das Blut, das durch das Loch in Hemd und Brust
quoll - der Schuss des Polizisten hatte ihn dicht über dem Herz getroffen.
    »Lass dir das eine Lehre sein, Raffaele«, sagte Yvonne. »Die Menschen sind schwach, aber wir dürfen sie nicht unterschätzen. Niemals.«
    Sie trat zu Granville, und wieder kam es zwischen ihnen zu einer wortlosen Kommunikation. Nicht mehr als drei oder vier Sekunden verstrichen, und dann stand Granville wieder auf. Die Kugel wurde aus dem Loch in der Brust gepresst, fiel mit einem leisen Klacken auf den Boden, und die Wunde schloss sich.
    Als sie im Wagen saßen, sah Granville - abgesehen von den Blutflecken auf Jackett und Hemd - ganz normal aus. Der Fahrer lenkte den Mercedes vom Parkplatz, gab auf dem Beschleunigungsstreifen Gas und reihte sich in den Verkehr der Autobahn ein. Zurück blieb eine Raststätte mit sieben Toten.
    Yvonne ergriff Raffaeles Hand. »Es ist nicht mehr weit. Heute Abend sind wir in Paris, und dort treffen wir die anderen.«
    »Ja«, sagte Raffaele nur und schaute hinaus in den stärker werdenden Regen. Er wusste: In Paris, wenn sie die anderen trafen, würde er wieder er selbst sein und sich an alles erinnern, und diese Aussicht entsetzte die rudimentäre Instanz, die ganz tief in ihm noch Widerstand leistete.
    Hilfe!, rief jene Instanz, während Raffaele aus dem Fenster sah. Bitte, ich brauche Hilfe!
    Aber niemand hörte ihn.

38
    Nördlich von Warschau
    S ie hatten den Wagen im Süden von Lettland zurückgelassen, unweit der litauischen Grenze, und seit mehreren Stunden saßen sie in einem Zug, der inzwischen durch Polen fuhr, in Richtung Warschau. Sebastian hatte auf eine Gelegenheit gehofft, mit Anna zu reden

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