Äon - Roman
betraten dort den für Männer bestimmten Raum, auch Yvonne. Granville blieb am Eingang stehen, und Raffaele spürte, wie sich einige seiner Gedanken nach außen wandten und eine Warnung schickten, die von den gewöhnlichen Menschen auf einem unterbewussten Niveau empfangen werden konnte - während der nächsten Minuten sollten sie sich von der Herrentoilette fernhalten.
Vier Männer unterschiedlichen Alters standen bei den Waschbecken und hatten offenbar auf sie gewartet. Albert trat zu ihnen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, und zusammen mit den anderen sah er Yvonne an.
In einem Teil von Raffaele regte sich freudige Erwartung, doch gleichzeitig wuchsen tief in ihm Abscheu und Entsetzen. Diesmal achtete die Frau nicht darauf und ging zu dem ersten der vier Männer, die hier gewartet hatten. Sie hielt plötzlich ein Messer in der Hand, und Raffaele sah, wie sich das Licht einer Neonröhre auf der Klinge widerspiegelte, bevor sie im Leib des Mannes verschwand, durch Fleisch und Knochen schnitt. Er stand einfach da und reagierte nicht, als Yvonne das Messer vom Bauch in die Höhe zog, als erst Blut und dann auch Eingeweide aus der klaffenden Wunde quollen. Mit einer Hand bewegte sie die Klinge, und die andere hielt den Mann an der Schulter fest. Ihr Gesicht konnte Raffaele nicht sehen, aber er spürte die Erregung, mit der sie die Schmerzen des Mannes empfing.
Und er empfing sie ebenfalls, diese psychische Energie, die Yvonne aufsaugte, wie eine aufladbare Batterie, die wieder Strom erhielt. Raffaele fühlte das Prickeln dieser Kraft, und der Teil von ihm, der freudige Erwartung empfunden hatte, nahm etwas von ihr auf, ebenso wie Granville an der Tür.
Der Mann sank mit einem leisen Röcheln zu Boden, und als er schließlich starb, kam etwas aus seinem Mund. Raffaele wusste, dass gewöhnliche Augen es nicht gesehen hätten, aber er beobachtete, wie sich eine kleine Wolke bildete, die ihn an kondensierenden Atem erinnerte. Yvonne beugte sich zu dem Sterbenden hinab, brachte ihren Mund dicht an seinen heran und atmete tief ein.
Die Wolke verschwand in ihr, und einen Moment später fühlte er, wie Yvonne innerlich wuchs. Äußerlich gab es keine Veränderung, abgesehen vielleicht von einer gewissen Befriedigung, die sich in ihren Augen zeigte.
»Jetzt verstehe ich«, sagte er. »Du bist mehr geworden.«
»Komm.« Yvonne lächelte und winkte. »Komm und wachse mit mir.«
Raffaele trat näher, und ganz tief unten, am Fundament seines Ichs, schluchzte etwas, als Yvonnes Messer durch den Körper des zweiten Mannes schnitt, der sich ebenso wenig zu wehren versuchte wie der erste. Er wusste, dass Yvonne in der Lage gewesen wäre, ihn und die anderen mit ihren Gedanken festzuhalten, aber das war gar nicht nötig: Sie hielten von selbst still. Er erinnerte sich an sie. Vor einigen Monaten waren sie in Drisiano gewesen, und er hatte sie in jener kleinen Kirche berührt, ihnen Leid genommen und dafür etwas anderes in ihnen gesät, das ihnen letztendlich noch viel mehr Leid bescherte. Er hatte etwas verteilt, das jemand anders vor langer, langer Zeit bekommen hatte, ohne es zu wollen: Die Saat war ausgebracht worden, und seit einigen Wochen wurde die Ernte eingeholt - am Ende dieses Vorgangs stand Paris.
Weitere Erinnerungen erwachten in Raffaele, und für einige wenige Sekunden sah er ein riesiges Netz aus Schmerz und Qualen aller Art. O ja, dies war eine reife Epoche, mit vielen Menschen, deren Leid genug Kraft geben konnte.
Der zweite Mann starb, und als sich zum letzten Mal sein Mund öffnete, kam eine graue Wolke daraus hervor. Raffaele beugte sich hinab und nahm sie auf, und von einem Augenblick zum anderen war er mehr. Und er verstand mehr.
»Es sind Teile von uns«, sagte er, als sich Yvonne dem dritten Mann zuwandte. »Sie haben Kraft für uns gesammelt, und jetzt kehren sie zurück und machen uns stark.«
»Ja«, erwiderte Yvonne, und in ihren Worten flüsterte ein viele Jahrtausende altes Versprechen. »Diesmal sind wir stark genug.«
Blut färbte den weißen Boden rot. Zwei weitere Männer starben, stumm, bis auf ein letztes Stöhnen, festgehalten von dem Anderen, das in ihnen steckte und darauf wartete, seinen Zweck zu erfüllen.
Raffaele ließ sich von Yvonnes Euphorie anstecken, und Granville erging es nicht anders. Eigentlich sollte er an der Tür Wache halten, aber er kam näher, als der vierte Mann zu Boden ging, und nahm seinen Odem auf.
Die Tür öffnete sich.
Ein Mann stand dort, sah
Weitere Kostenlose Bücher