Äon - Roman
und ihr all die Fragen zu stellen, die ihn bewegten, aber praktisch von Anfang an teilten zwei dickliche, ständig schwatzende alte Russinnen das Abteil mit ihnen. Zwar verstanden sie vermutlich kein Wort Italienisch, doch es widerstrebte Sebastian, im Beisein anderer Personen über vertrauliche Dinge zu sprechen. So hatte er nur tief in Gedanken versunken aus dem Fenster gestarrt und war schließlich eingenickt. Als er erwachte, plapperten die beiden Russinnen noch immer miteinander.
Anna sah ihn an. »Wie geht es dir?«
»Besser«, sagte er, und das stimmte. Ein Teil des Drucks, der auf ihm lastete, hatte nachgelassen, und etwas Ruhe war zurückgekehrt. Er rang sich ein Lächeln ab. »Es tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«
»Dies alles. Ich habe es mir anders vorgestellt. Als ich dich bat, mich nach Riga zu begleiten …« Sebastian sah kurz zu den beiden Schwatztanten gegenüber. Eine von ihnen blickte in
seine Richtung und schwieg lange genug, um tief Luft zu holen, ratterte dann auf Russisch weiter. »Ich dachte, wir hätten Zeit für uns«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. »Zeit um über alles zu reden.«
»Es ist ziemlich viel passiert.«
»Ja«, bestätigte Sebastian. »Ja, das kann man wohl sagen. Wir sitzen ganz schön in der Scheiße.«
Anna nickte.
Einige Sekunden rang Sebastian mit sich, aber die Neugier war zu stark. »Warum hast du deinen Namen auf das Pergament gesetzt?«, fragte er leise. »Was sollte das alles? Und was hast du damit gemeint, dass sich Anatoli auf einen Kampf vorbereitet?«
Aber Anna schüttelte den Kopf und sah kurz zu den beiden Russinnen. Sebastian verstand.
Er lenkte sich ab, indem er die Reisetasche im Gepäckfach kontrollierte. Sie hatten sie in einem kleinen Supermarkt an der Grenze gekauft, zusammen mit einigen anderen Dingen wie Seife, Rasierzeug und so weiter. Die Koffer, mit denen sie nach Lettland gereist waren, befanden sich noch im Reval Hotel Latvija beziehungsweise bei der lettischen Polizei. Zusammen mit seinem Handy. Er fragte sich kurz, wie oft Wolfgang inzwischen versucht hatte, ihn zu erreichen.
Nach einer Weile wurde der Zug langsamer. Sebastian schaute aus dem Fenster und stellte fest, dass die flache Landschaft mit weiten Feldern den Gebäuden einer mittelgroßen Stadt gewichen war. Die Russinnen begannen, ihre Sachen einzusammeln.
Endlich, dachte Sebastian.
Die beiden Frauen richteten einige freundlich klingende
russische Worte an Anna und ihn, als sie das Abteil verließen. Anna winkte und lächelte und zog die fleckigen Vorhänge an den Fenstern der Tür zu.
»Das wurde auch Zeit«, sagte Sebastian. »Anna …«
Sie kam ihm zuvor. »Simon Krystek.«
»Was?«
»Ich nehme an, Anatoli erwartet ihn. Darum war er so unruhig und drängte uns, ihn zu verlassen. Er wusste, dass Krystek zu ihm unterwegs ist, und er wollte uns nicht in Gefahr bringen.«
Der Zug hielt. Sebastian warf einen kurzen Blick auf den Bahnsteig, sah Leute, die aus- und einstiegen. Sie interessierten ihn nicht, und er wandte sich wieder an Anna.
»Er will gegen Krystek kämpfen?« Sebastian dachte an den Mann, der so schnell gewesen war, trotz der Kugel in seiner Schulter, der ihn angesehen, gelächelt und genickt hatte.
»Um uns mehr Zeit zu geben«, sagte Anna. »Und weil er es für seine Pflicht hält. Als junger Mann hat er einen Eid geleistet. Er gehört zu den sogenannten Sapienti und ist ein Bewahrer des Wissens.«
»Es gab nicht mehr viel zu bewahren, wie er selbst gesagt hat«, erwiderte Sebastian.
»Weil ein großer Teil des Wissens über die Jahrhunderte verloren ging. Er hält Krystek für einen der Sechs, für einen Nephilim, und er glaubt, dass er uns verfolgt.«
Einige Sekunden lang starrte Sebastian ins Leere, griff dann in die Hosentasche und holte das Medaillon hervor. Es ruhte warm in seiner Hand und passte so gut hinein, als wäre es dafür geschaffen. Er drückte noch einmal den Knopf an der Seite, doch der Deckel gab nicht nach; das Medaillon
blieb geschlossen. Fast unwillig steckte Sebastian es wieder ein.
»Ich habe das Gefühl, im falschen Film zu sein«, sagte er leise. »Verdammt, Anna, glaubst du diesen ganzen Hokuspokus? Du hast die Bücher gesehen; der größte Teil davon war esoterischer Stuss. Jemand mit wissenschaftlichem Hintergrund könnte den ganzen Bockmist innerhalb kurzer Zeit widerlegen. Gilgamesch, Nephilim …« Er schnitt eine Grimasse.
»Sie werden in der Bibel erwähnt«, sagte Anna, und Sebastian kannte diesen
Weitere Kostenlose Bücher