Äon - Roman
Tonfall. So intellektuell und rational Anna auch sein konnte, wenn es um die Bibel ging, glaubte sie. »Und deine Erinnerungen an Dinge, die du gar nicht erlebt hast … Sind sie auch esoterischer Stuss?«
Sebastian hatte darüber nachgedacht. »Vielleicht sind es gar keine Erinnerungen, sondern Halluzinationen.«
»Dafür sind sie erstaunlich detailliert. Und was im Restaurant des Hotels passiert ist … Das waren keine Halluzinationen. Du und dieser Simon Krystek … Ihr seid schneller gewesen, als es Menschen möglich sein sollte.«
Sebastian entsann sich daran, die abgefeuerten Pistolenkugeln gesehen zu haben. »Vielleicht habe ich doch die rote Pille genommen …«, murmelte er.
Die Tür des Abteils öffnete sich, und ein junger Mann, der einen Getränkewagen schob, schaute herein. Sebastian und Anna bestellten Kaffee.
Als sie ihn bekommen hatten und die Tür wieder geschlossen war, fragte Sebastian: »Warum hat er sich so zurückgezogen? Anatoli, meine ich. Warum ist er zum Eremiten geworden?«
Noch während Sebastian diese Frage stellte, begriff er, dass
sie nur zum Teil von ihm selbst stammte. Das Fremde in ihm war ebenfalls daran interessiert.
»Wir haben gestern Nacht nicht direkt darüber gesprochen, aber er machte einige Andeutungen«, sagte Anna. »In ihren jungen Jahren waren er und Don Vincenzo in Lateinamerika unterwegs und gehörten dort zu den Geistlichen, die für die Rechte der Ureinwohner und Kleinbauern eintraten, für die Menschen, die den ganzen Tag hart arbeiteten und doch nur mit Mühe überleben konnten. Sein Engagement führte offenbar dazu, dass man ihn mehrmals ins Gefängnis steckte, aber er gab nie auf. Anschließend ging er nach Asien und Afrika, wo er versuchte, möglichst viele Kindersoldaten zu retten. Im Lauf der Jahre standen kleinen Erfolgen immer mehr Tragödien gegenüber, und irgendwann zerbrach etwas in ihm. Er verlor die Hoffnung und zog sich zurück.«
Sebastian nickte. »Anatoli verlor die Hoffnung und Don Vincenzo seinen Glauben. Besser gesagt: Er begann zu zweifeln. Er meinte zu mir, selbst Mutter Teresa hätte gelegentlich an Gott gezweifelt. Er hat nach dem richtigen Weg für sich gesucht, und eine Ironie des Schicksals wollte es, dass er glaubte, ihn ausgerechnet bei Raffaele gefunden zu haben.«
»Er tut mir leid«, sagte Anna. »Auf eine solche Weise zu sterben …«
Sebastian schwieg und blickte aus dem Fenster, als es zu einem Ruck kam - der Zug setzte die Fahrt fort. Männer und Frauen blieben auf dem Bahnsteig zurück, wie verloren in einer Welt, die ihm plötzlich fremd erschien. Dann begriff er, dass nicht sie verloren waren, sondern er - für ihn schien es nirgends einen Platz zu geben.
»Er hat keine Chance«, sagte er leise und trank einen Schluck Kaffee.
»Wer?«
»Anatoli. Wenn Krystek tatsächlich bei ihm erscheint, hat er keine Chance gegen ihn.«
»Vielleicht kennt er Mittel und Wege …«, begann Anna.
»Nein. Du weißt nicht, wozu Krystek fähig ist.«
»Weißt du es?«
»Ich …« Sebastian klappte den Mund wieder zu und erinnerte sich an die Konfrontation im Restaurant des Hotels. Simon Krystek war überhaupt nicht überrascht gewesen und hatte sich so verhalten, als … wollte er ihn, Sebastian, mit seinen besonderen Fähigkeiten vertraut machen. Der Schuss auf ihn, die Kugel, der er ausgewichen war, Krysteks Lächeln und Nicken, bevor er davonlief, schneller als der schnellste Mensch …
»Ich habe alles gesehen«, sagte er. »Im Hotel. Sogar die Pistolenkugeln.«
»Du hast die Kugeln gesehen?«, fragte Anna.
»Wie in Zeitlupe«, sagte Sebastian. »Deshalb konnte ich so schnell sein: Alles andere wurde ganz langsam für mich. So muss es auch für Krystek gewesen sein.«
Anna blickte ihn groß an, während der Zug schneller wurde. Zum Glück suchte keiner der neu eingestiegenen Passagiere in diesem Abteil nach einem Platz. »Ist dir klar, was das bedeutet, Bastian?«
Sebastian gab keine Antwort.
Anna ließ einige Sekunden verstreichen. »Von wegen Halluzinationen! Anatoli hat recht - in dir wächst ein Nephilim heran.«
Es hörte sich anders an als »Du hast einen Hirntumor«, aber die Diagnose war mindestens ebenso schrecklich. Und so seltsam die Worte auch klangen, Sebastian erkannte die Wahrheit in ihnen.
»Anatoli konnte oder wollte mir nicht mehr sagen …« Er deutete zur Reisetasche im Gepäckfach und meinte das Pergament in ihr. »Aber da du unterschrieben hast und ganz offiziell zu seiner Nachfolgerin geworden
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