Äon - Roman
damit einhergehenden physiologischen Prozesse vorzustellen. Welche Folgen ergaben sich daraus für das Gehirn? Waren Zellen abgestorben? Fiel ihm konzentriertes Nachdenken deshalb so schwer? Was geschah mit ihm?
Die letzte Frage war die wichtigste und ließ sich am leichtesten beantworten: Die Kontamination veränderte ihn.
Singerer schüttelte die Starre ab, kletterte die Leiter hoch und versuchte dabei, sich seiner Situation bewusst zu bleiben. Doch die Gedanken zerfaserten erneut, trieben fort wie Nebelschwaden im Wind. Es fühlte sich gut an, den linken Arm zu benutzen, und es freute ihn, den höllischen Schmerz darin los zu sein. Höllisch. Singerer lachte leise. Das Wort gefiel ihm. Aus irgendeinem Grund hielt er es für sehr komisch, und er lachte erneut.
Am Ende der Leiter befand sich kein Gullydeckel, sondern eine Luke ohne Öffnungen. Er löste die Arretierung, klappte sie auf und kletterte aus dem Schacht, nicht sehr weit vom Klärwerk entfernt. Der unstete Schein von Flammen schälte die Konturen des Gebäudekomplexes aus der Nacht.
Weiter hinten brannte die Klinik.
Das Feuer hatte sich ausgebreitet, den Hauptteil des Krankenhauses erreicht und dort offenbar reichlich Nahrung gefunden. Einsatzgruppen waren damit beschäftigt, es einzudämmen. Wasser spritzte in weiten Bögen aus dicken Schläuchen und verschwand in den wütend züngelnden Flammen.
Singerer beobachtete das Feuer und kicherte.
Hinter ihm knirschte es - kleine Steine unter einem Stiefel -, und jemand sagte: »Bleiben Sie stehen und heben Sie die Hände.«
Singerer drehte sich um und sah eine dunkle Gestalt, in einen Schutzanzug gekleidet, das Gesicht hinter einem Helmvisier verborgen. Der Mann - er vermutete, dass es ein Mann war - richtete eine automatische Waffe auf ihn.
Er trat einen Schritt näher, allein von Neugier getrieben. Etwas an der Gestalt erschien ihm vertraut, und er wollte wissen was.
»Bleiben Sie stehen!« Der Mann hob die Waffe.
Jäher Zorn erfüllte Singerer. Plötzlich wollte er den Schutzanzug des Mannes zerreißen, den Helm zertrümmern und die Faust ins Gesicht hinter dem Visier schlagen. Er sprang vor.
Mündungsfeuer blitzte, und das Knallen schien nicht von der automatischen Waffe zu kommen, sondern von den Kugeln, als sie in seinen Körper schlugen. Sie warfen ihn zurück,
und das bedauerte er mehr als den Schmerz der neuen Wunden, denn er hätte sich zu gern auf den Mann gestürzt.
Singerer fiel auf den Rücken und wollte sofort wieder aufstehen, doch der Körper gehorchte ihm nicht. Blut floss aus ihm heraus und schwächte ihn.
Die Dunkelheit der Nacht schien dem Schein der Flammen trotzen zu wollen und kroch heran. In ihr bewegte sich etwas; der in den Schutzanzug gekleidete Mann ragte in der Finsternis auf, die Waffe schussbereit.
Singerer wollte etwas sagen - es war wichtig, dieses eine Wort zu formulieren, denn es bedeutete und erklärte viel -, doch die Kräfte verließen ihn. Die Dunkelheit packte ihn, bevor er das Wort aussprechen konnte.
Er hatte »Hilfe« sagen wollen.
»Wie geht es Ihnen?«
»Es geht mir gut, Boris«, sagte Singerer. »Holen Sie mich hier raus.«
Es stimmte nicht ganz: Er fühlte sich nicht gut, nur etwas besser. Seine Gedanken waren zwar langsam, aber ein wenig klarer, was vermutlich an den Medikamenten lag, die er bekam. Er trug eine Jacke, in der er die Arme kaum bewegen konnte, sicher zu seinem eigenen Schutz, dachte er und erinnerte sich an die Schussverletzung. Andere Erinnerungen blieben vage und undeutlich, farblose Schatten in seinem Innern, grau und ohne Konturen.
»Das geht leider nicht, Roland. Sie sind kontaminiert.«
Kontaminiert. Ein seltsames Wort, fand Singerer. Es klang ein wenig komisch, und er lachte versuchsweise, woraufhin das Wort seinen komischen Klang verlor. Boris blieb die ganze
Zeit über ernst, ebenso Marisa an seiner Seite. Sie saßen beide hinter der dicken Scheibe weiter vorn, in einem Raum mit Tischen und Geräten. Neben ihnen standen zwei Personen, die Singerer nicht kannte, beide in weiße Kittel gekleidet.
»Kon-ta-mi-niert«, wiederholte er. Das Sprechen fiel ihm schwer. Mit seinem Mund stimmte etwas nicht, und das Gesicht fühlte sich aufgedunsen an. Er versuchte es erneut: »Kontaminiert«, sagte er. »Ich bin kontaminiert.« Diesmal waren die Worte etwas deutlicher.
»Ja«, sagte Boris und wechselte einen kurzen Blick mit Marisa. Seine Stimme kam aus einem nahen Lautsprecher. »Wissen Sie, was mit Ihnen geschehen
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