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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Boris.«
    Der Mann mit der Brille nahm einen Spiegel vom nahen Tisch und hielt ihn so, dass Singerer hineinsehen konnte.
    Er sah nicht sich selbst, sondern ein Ungeheuer.
    Im verquollenen Gesicht saß das eine Auge niedriger als das andere, und darunter wölbten sich wie von Eiterherden geschaffene Hautbeutel, aus denen kurze, borstenartige Haare wuchsen. Die krumme Nase wirkte hart, wie aus Horn, und neben ihr zeigte sich etwas, das wie verkrustetes Blut oder Schorf aussah. Der Mund war nach vorn gewölbt, wie bei einem Fisch, und die Lippen schienen so verkrustet zu sein wie die Flecken neben der Nase. Die Zähne waren anders angeordnet und länger.
    Singerer starrte das Wesen im Spiegel an und begriff plötzlich: Das Monstrum war er!
    Er stöhnte, jäh heimgesucht von dem Gefühl, aufgespürt,
entdeckt und entlarvt worden zu sein, zu früh dem Verborgenen entrissen. Mit einem Ruck stand er auf - die Scharniere an Knien und Hüften gaben mit einem lauten Knacken nach -, wankte zur dicken Scheibe und versuchte, nach dem Spiegel zu greifen, der ihn verriet. Die Arme steckten in etwas, das seine Bewegungen behinderte, doch der Stoff riss, als er seine ganze Kraft zusammennahm. Er holte aus, schlug erst mit der linken und dann mit der rechten Faust gegen die Scheibe, schließlich mit beiden. Als das nichts nützte, nahm er einen kurzen Anlauf und warf sich mit dem Kopf voran gegen das transparente Hindernis. Dünne Risse bildeten sich in der Scheibe, doch der Aufprall tat weh und schwächte ihn - er sank zu Boden.
    Einige Gedankenfragmente verbanden sich miteinander und formten ein mentales Gebilde, das komplex und stabil genug war, um für wenige Sekunden die Kontrolle zu übernehmen. Singerer hob den Kopf.
    »Boris, Marisa …«, krächzte er. »Bitte … töten Sie mich. Ich flehe Sie an …«
    Wut zerriss die Gedanken wieder, und er stemmte sich hoch. Der Mann mit der Brille und die Frau an seiner Seite waren zurückgewichen, ebenso die Gestalten in Weiß. Hatten sie Angst vor ihm? Er wankte zurück, nahm einen neuen Anlauf.
    »Betäuben Sie ihn«, wandte sich die Feuerhaarfrau an die weißen Gestalten. »Volle Dosis.«
    Unter den Resten der Jacke, am Rücken, breitete sich erneut Kälte aus, und diesmal wurde sie nicht zu Wärme. Eis schien durch seinen Körper zu ziehen, und er kam nur zwei oder drei Schritte weit. Kurz vor der Scheibe ließ ihn der Frost erstarren und raubte ihm die Kraft. Er kippte, fiel und prallte auf den
Boden, der Körper gelähmt und der Geist in kalten Nebel gehüllt.
    Tötet mich!, heulte etwas in ihm, ganz tief unten, aber es heulte nicht laut genug.

51
    Paris
    H inter der Mautstelle standen mehrere Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht und ließen nur eine Fahrbahn frei. Am Horizont erstreckte sich das Lichtermeer von Paris, hell genug, um die Wolken darüber erglühen zu lassen.
    Als Sebastian den Kopf drehte und den Verkehr auf der anderen Seite der A5 beobachtete, bemerkte er Annas Blick. Er sah sie kurz an und empfing die stumme Botschaft in ihren großen Augen.
    »Wenn Sie Dummheiten machen, so gefährden Sie nur sich selbst und diese Leute hier«, sagte der am Steuer sitzende Simon Krystek, ohne sich umzudrehen. Seine Worte galten Anna. »Ich weiß mich zu schützen, glauben Sie mir.«
    Sebastian hörte die Worte und versuchte mehr zu verstehen als nur ihren unmittelbaren Inhalt. Es ging ihm schlecht. Mehrmals hatte er gewürgt und sich fast erbrochen; ihm war heiß und gleichzeitig kalt wie bei einem Fieber, und seine Augen tränten. Zweimal hatte er die Hand gehoben und nach der Flüssigkeit getastet, die ihm aus den Augenwinkeln rann, aus Furcht, es könnte Blut sein. Heftiger Schmerz stach in Schüben zwischen seinen Schläfen, noch schlimmer als der, der ihn all die Monate gequält hatte. Er fühlte sich krank, wie bei einer
schweren Grippe, und das Denken wurde zu einer echten Anstrengung. Warum wandte sich Krystek mit einer Warnung an Anna?, fragte er sich. Hätte er sie nicht einfach seinem Willen unterwerfen können?
    Er spürte Annas Blick im Nacken, als er wieder nach vorn sah, und er glaubte sogar, ihre Gedanken zu hören: Wir müssen etwas unternehmen, Bastian. Die Polizisten dort vorn … Vielleicht sind sie unsere letzte Chance.
    »Sie würden sterben«, sagte Krystek.
    Mehrere Wagen hielten vor ihnen, und ein Polizist wandte sich kurz an die Fahrer, während einige andere in der Nähe standen und die Fahrzeuge im Auge behielten. Auf dieser Seite der

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