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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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ist?«
    Während Singerer noch überlegte, sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung und wollte den Kopf drehen, aber es ging nicht. Etwas hielt ihn fest. Das ärgerte ihn.
    »Warum kann ich den Kopf nicht drehen?«, fragte er. Er wollte aufstehen, aber auch das ging nicht. Seine Hose, so merkte er erst jetzt, wies steife Gelenke an Hüften und Knien auf, Scharniere aus einem harten, glänzenden Etwas - Metall, entsann er sich, vielleicht Aluminium -, das ihn zwang, auf dem Stuhl sitzen zu bleiben. »Warum bin ich gefesselt? Ich will nicht gefesselt sein!«
    »Beruhigen Sie sich, Roland«, sagte Marisa. Sie beugte sich vor, und ihr feuerrotes Haar … es erinnerte Singerer an Flammen. »Sie sind hier in Sicherheit.«
    »Ich will nicht gefesselt sein!«, stieß Singerer hervor. Aus dem Ärger wurde Zorn, und er spannte die Muskeln.
    Eine der beiden in weiße Kittel gekleideten Personen trat näher an die Scheibe heran. »Eine weitere Dosis«, sagte sie.
Singerer konnte nicht feststellen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte; das Gesicht war für ihn kaum mehr als ein leeres Oval, grau wie viele seiner Erinnerungen. »Konzentrat fünfzig Prozent.«
    Etwas berührte ihn am Rücken, unter der Jacke, etwas Kaltes direkt am Rückgrat. Wenige Sekunden - Sekunden? - später verwandelte sich die Kälte in angenehme Wärme, und der Zorn wich aus ihm. Die Gedanken wurden noch ein wenig langsamer, manche Bilder in ihm noch undeutlicher.
    »Wissen Sie, was mit Ihnen geschehen ist?«, fragte Boris noch einmal. »Und was in der Klinik geschah?«
    »In der … Klinik?«
    »Erinnern Sie sich daran, wie Sie aus dem Kanal geklettert sind? Und an den Beamten mit der Waffe?«
    »Waffe?« Das Wort war so absurd lächerlich, dass Singerer erst zu kichern begann und dann lauthals lachte, bis ihm die Tränen kamen. Sie liefen ihm über die Wangen.
    »Sie haben ihn angegriffen, und er hat auf Sie geschossen«, sagte die Frau mit dem brennenden Haar. Wie hieß sie? Eben hatte er noch ihren Namen gewusst. O ja, jetzt fiel er ihm wieder ein: Mary. Die Frau hieß Mary. Und sie hatte einen unsichtbaren Freund mit festen, starken Händen. Sie hatten ihn erdrosselt, und auch das war komisch, denn er lebte noch.
    Er lebte noch, obwohl die dunkle Gestalt auf ihn geschossen hatte.
    »Geschossen«, sagte er mühsam. »Die Kugeln haben … geknallt.«
    »Fünf«, sagte Marisa. »Fünf Kugeln haben Sie getroffen. Eine im Gesicht.«

    Oh, das erklärte das seltsame Gefühl von Aufgedunsenheit. Eine Wunde.
    »Sie müssten tot sein, Roland«, fügte Marisa hinzu.
    Ein anderer Name fiel ihm ein. »Elmer«, brachte er hervor. Die Zunge war ihm im Weg. Er hätte gern eine Hand gehoben, um sie beiseitezuschieben; dann wäre es ihm bestimmt möglich gewesen, deutlicher zu sprechen. »Hast du Elmer bei dir, Mary?«
    »Ich bin Marisa, Roland«, sagte die Frau mit dem Feuerhaar und den vielen Punkten im Gesicht. »Erinnern Sie sich an mich?«
    Singerer sah durch die dicke Scheibe und beobachtete Gestalten, die immer mehr an Individualität einbüßten. Namen verloren ihre Bedeutung. Es sei denn, sie klangen anders, ganz anders …
    »Ich bin nicht tot«, sagte er in einem weiteren klaren Moment.
    »Nein, das sind Sie nicht«, bestätigte der Mann mit der Brille. »Fünf Kugeln, und Sie leben.«
    Sechs, dachte Singerer und erinnerte sich an die im linken Arm. »Sechs«, sagte er, und dabei huschten seine Gedanken - plötzlich wie kleine, flinke Tiere - in eine neue Richtung. »Es sind sechs …«
    Der Mann mit der Brille und die Frau mit dem brennenden Haar wechselten einen neuerlichen Blick.
    »Sechs was?«
    »Es sind sechs, und sie …«
    Der Gedanke löste sich auf, zerfranste wie ein Fadenbündel in Wasser und wich dem Wunsch nach Freiheit. »Holen Sie mich hier raus, Bob.«

    »Ich heiße Boris, Roland.«
    Es klang nicht lustig. Zorn wogte durch Singerer. »Es ist mir gleich, wie Sie heißen!«, stieß er hervor. »Holen Sie mich hier raus!«
    Der Mann mit der Brille zögerte. »Ich verstehe Sie nicht, Roland. Können Sie etwas deutlicher sprechen?«
    Und die Frau an seiner Seite sagte: »Es dürfte ihm schwer genug fallen, Boris. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch sprechen kann.«
    Der Mann räusperte sich. »Wissen Sie, was mit Ihnen passiert, Roland?«
    Roland? Damit war er selbst gemeint, aber der Name bedeutete ebenso wenig wie die anderen. Er wollte etwas sagen und hörte ein Knurren, das aus seinem Mund kam.
    »Zeig es ihm,

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