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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Tiefe.
    »Sieh mit den anderen Augen«, sagte Yvonne. Sie war nahe, ein Trost und gleichzeitig eine Bedrohung. Raffaele hätte gern die Arme um sie geschlungen, auf der Suche nach Geborgenheit, doch ein anderer Teil von ihm wollte vor ihr fliehen. »Öffne die Augen in deinem Innern.«
    Er senkte die Lider und stellte sich dann vor, sie wieder zu heben, ohne sie zu bewegen. Die Dunkelheit zog sich zurück und wich einem Grau, das keine Farben erlaubte, ihm aber die Umgebung zeigte: Sein Blick reichte mindestens hundert Meter weit nach unten, und deutlich sah er Granville und die beiden anderen Männer, die schon mehr als zwei Dutzend Stufen hinter sich gebracht hatten.
    Deveny drehte sich kurz um, und die Stimme des Windes schien durch den langen Tunnel zu flüstern. »Kommt«, verstand Raffaele und setzte sich in Bewegung, als Yvonne ihm zunickte.
    Erst versuchte er, die Stufen zu zählen, aber nach ungefähr einer Viertelstunde gab er es auf. Es wurde kühler, und dann, nach einem weiten Bogen der endlosen Treppe, stieg die Temperatur
wieder. Zweimal endete der Weg an Wänden, die beim ersten Mal aus aufeinandergeschichteten, unregelmäßig geformten Steinblöcken bestanden, von denen oben sechs - sechs, dachte Raffaele - zu einem V angeordnete Totenköpfe herabblickten, die im Gegensatz zu den anderen in den Katakomben ihre Unterkiefer behalten hatten. Die zweite Wand, aus Felsgestein, zeigte Bearbeitungsspuren von Meißel und Hammer, aber es hatte den Anschein, als hätten es die Menschen hier aufgegeben, weiter in die Tiefe vorzudringen. In beiden Wänden bildeten sich Lücken, als Granville und Deveny sie berührten, und hinter der Gruppe schlossen sie sich mit dem leisen kratzenden Geräusch, das Raffaele bereits kannte. Hinter der zweiten Wand waren die Stufen höher und manchmal so schief, dass der Weg nach unten zu einer Kletterpartie wurde, die große Aufmerksamkeit verlangte. Raffaele, müde und mit schweren Beinen, war so sehr darauf konzentriert, das Gleichgewicht zu wahren und nirgends abzurutschen, dass er die Höhle, die sie erreicht hatten, erst bemerkte, als nur noch wenige Meter ihn vom Boden trennten.
    »Wir sind da«, sagte Yvonne, und Raffaele blieb auf einer der letzten Stufen stehen, die ihm viel älter erschienen als die anderen in den Katakomben.
    »Was ist dies für ein Ort?« Raffaele sah sich um, auch mit seinen inneren Augen, aber sein Blick reichte nicht bis zum Ende der Höhle, das in der Finsternis verborgen blieb. An der Wand links von der Treppe bemerkte er verblasste Zeichen, deren Sinn sich ihm nicht erschloss. Einige Striche und Linien waren so angeordnet, dass man mit ein wenig Phantasie Tiere erkennen konnte. Nein, keine Tiere, dachte Raffaele. Geschöpfe. Manche von ihnen mit mehr als vier Beinen, drei oder vier
Köpfen, großen Flügeln, Klauen und Tentakeln. An anderen Stellen bildeten kringelartige Markierungen und vage Kleckse Gruppen, die ihn an chinesische Schriftzeichen erinnerten. »Von wem stammen die Bilder?«
    Granville und seine beiden Begleiter hatten das Ende der Treppe erreicht und eilten durch die dunkle Höhle, auf zwei Säulen zu, die weiter hinten aufragten.
    »Von Menschen, die viele Jahrtausende vor uns hierher flohen«, sagte Yvonne. »Damals, als das Eis die Welt beherrschte. Nach uns«, fügte sie hinzu und lächelte bei diesen Worten. »Sie wähnten sich sicher, geschützt von Dunkelheit, Tiefe und ihren Zeichen und Bildern. Aber wir fanden sie. Wir fanden sie alle.«
    Raffaele wollte eine weitere Frage stellen, doch Yvonne kam ihm zuvor. »Oh, es gab noch andere Orte wie diesen. Schlupflöcher und Refugien jener, die unserer Herrschaft Widerstand leisteten.«
    Die Finsternis zog sich in ferne Winkel und Ecken der Höhle zurück, als die beiden Säulen in einem matten, farblosen Licht zu leuchten begannen. Eine Art kaltes Feuer schien in ihnen zu brennen, und in seinem Schein sah Raffaele graues Nichts zwischen ihnen.
    Neugierig geworden brachte er die letzten Stufen hinter sich und trat durch die Höhle, den beiden Säulen entgegen. Eine seltsame Aufregung erfasste ihn.
    Als er wenige Meter vor dem Grau stehen blieb, das aus der Nähe gesehen fast massiv wirkte, fühlte er die erwartungsvollen Blicke der drei Männer auf sich ruhen.
    »Die andere Seite«, erklang Yvonnes Stimme neben ihm. »Sieh dir die andere Seite an, Raffaele.«

    Er mied das Grau, ging zur rechten der beiden Säulen, zögerte kurz und spürte, dass die Aufregung nicht nur in ihm

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