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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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… Hast du dich nicht gefragt, wie das möglich ist?«
    Die ersten verwirrenden Bilder vom Knaben namens Nikolaus und seinem Kreuzzug … Sie haben Sebastian zutiefst verunsichert. Jetzt beginnt er den Grund für sie zu erahnen.

    »In der Kirche von Drisiano …«, sagt Sebastian langsam. Der zischende, fauchende Wind stiehlt ihm die Worte von den Lippen, aber er weiß, dass Nikolaus ihn versteht. »Als Raffaele ein Gebet für mich sprach … Bilder zogen an meinem inneren Auge vorbei, und einige von ihnen zeigten mir einen anderen Jungen, in Raffaeles Alter. Seine Augen schienen heller zu sein, und sie blickten nicht ruhig, sondern fast flehentlich. Es waren …«
    »Es waren meine Augen, ja.« Nikolaus nickt. »Die Saatphase ging zu Ende«, fährt er fort und beobachtet noch immer die dunkle Masse, die immer größere Teile der Ebene bedeckt und sich wie unaufhaltsam der Felsnadel nähert. Der Wind wird stärker, faucht noch lauter, und Sebastian hält sich mit beiden Händen am Kreuz fest. »Der Rest ging auf dich über, ich konnte es ebenso wenig verhindern wie bei den anderen, aber ich habe die Saat begleitet. Eigentlich blieb mir gar keine andere Wahl, denn die Zeit war nahe. Sie ist nahe.« Er deutet in die Wüste. »Da kommen sie.«
    In der schwarzen Masse lassen sich die ersten einzelnen Gestalten erkennen: käferartige Geschöpfe auf krummen Beinen, schneller als die schnellsten Tiere - mit weiten Sätzen springen sie über Hindernisse hinweg und laufen so dicht nebeneinander, dass immer wieder ihre dunklen Panzer aneinanderschaben. Die kratzenden Geräusche summieren sich zu einem lauter werdenden Donnern.
    »Die Bewohner der anderen Welt«, sagt Nikolaus mit schwerer Stimme. »Auch sie wissen, dass der entscheidende Zeitpunkt fast gekommen ist.«
    Sebastian starrt auf das dunkle Brodeln in der Wüste. Die schwarze Flut wogt heran, strömt um die Felsnadel herum und an ihr vorbei. Doch einige Geschöpfe, wie Kreuzungen zwischen Skorpionen und Hornissen, halten inne und beginnen damit, an dem hohen Felsen emporzuklettern.
    Zum ersten Mal dreht Sebastian den Kopf und blickt in die andere Richtung. Die Lichter einer großen Stadt leuchten dort in der Nacht; ein
Turm ragt in ihr auf, aus Stahl, unten breit und sich nach oben hin verjüngend. Er erkennt ihn sofort.
    »Das ist Paris«, sagt er.
    »Ja. Dort versammeln sie sich.« Nikolaus sieht Sebastian an, und wieder ist er der Greis, uralt, schwach, am Ende seiner Kräfte. »Allein schaffe ich es nicht, Sebastian. Du musst mir helfen.«
    »Helfen?«, krächzt Sebastian. Das Atmen fällt ihm plötzlich schwer. »Wobei?«
    »Wobei? Wir müssen die Sechs zur Strecke bringen! Darauf habe ich achthundert Jahre gewartet! Wir müssen sie zur Strecke bringen und verhindern, dass sie ihre Pläne für Raffaele verwirklichen können!«
    »Pläne?« Sebastian bekommt kaum mehr Luft. Er wendet den Blick von der Stadt ab und sieht nach unten. Die ersten dunklen Geschöpfe sind nur noch zehn Meter entfernt, vielleicht weniger, und sie klettern zielstrebig weiter.
     
    Auf dem Weg durch die Stadt würgte Sebastian immer wieder, aber sein Magen war längst leer. Anna blieb an seiner Seite, stützte ihn und versuchte manchmal, mit ihm zu sprechen - der vor ihnen gehende Krystek hinderte sie nicht daran -, aber Sebastian verstand kein Wort. Die Menschen, denen sie unterwegs begegneten, wichen ihnen besorgt aus, als sie sahen, dass es ihm schlecht ging. Schließlich betraten sie ein Gebäude, ließen das Heulen der Sirenen hinter sich zurück und gingen eine lange Wendeltreppe hinab. Tief unten erreichten sie ein Gewölbe, dessen Wände aus Knochen bestanden.
    Aus Knochen …
    Sebastian erinnerte sich daran. Er hatte diese Wände schon einmal gesehen, in einer Vision. Darin …

    … hält er ein spitzes, glänzendes Objekt in der einen Hand, als er sich Anna nähert. Sie reißt die Augen auf, schüttelt wie in Zeitlupe den Kopf und hebt abwehrend die Hände, aber er stößt sie beiseite und zielt mit dem Dolch auf ihren Hals …
     
    »Nein«, ächzte er. Dies war der Moment, den er gefürchtet hatte.
     
    Das erste dunkle Geschöpf kriecht über den Rand der Felsnadel, richtet sich im böigen Wind halb auf und streckt eine Skorpionschere nach Sebastian aus.
    »Was soll ich tun?«, ruft er Nikolaus zu . »Sag mir, was ich tun soll!«

52
    Paris
    D as französische Einsatzzentrum befand sich auf der größeren der beiden Seine-Inseln im Zentrum der Stadt, unweit von Notre-Dame.

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