Äon - Roman
sich zusammen, enttäuscht und verzagt.
Sebastian öffnete den Mund, um ihr etwas zu sagen …
Sein Atem kondensiert in der Kälte, wird zu einer grauen Wolke, die ihn an etwas erinnert, doch das Erinnerungsbild löst sich auf, bevor er es festhalten kann.
»Der Junge sehnte sich nach Abenteuern«, sagt Nikolaus, schaut noch immer nach draußen und beobachtet den langsamen Tanz der Schneeflocken. Sie werden größer, was bedeutet, dass die Temperatur steigt. Vielleicht ist das schlechte Wetter bald vorbei. »Doch der erwachsene Nikolaus, der betrogene und enttäuschte, wünscht sich Ruhe und Frieden.«
»Du hast gefunden, was du suchst«, sagt Sebastian und beneidet ihn um sein beschauliches Leben in dem kalabrischen Dorf.
»Nein.« Nikolaus senkt den Kopf. »Tausende sind gestorben, weil sie mir vertraut haben, Sebastian. Ich habe die Hoffnung und Begeisterung in ihren Augen gesehen, und dann das Leid, die Verzweiflung.«
»Es ist nicht deine Schuld.«
»Ich habe sie aufgefordert, mir zu folgen«, sagt Nikolaus. Er blickt noch immer zu Boden, als er leise hinzufügt: »Verzeih mir, Herr. Bitte verzeih mir …«
Es ist ein seltsamer Moment, mit einer Tiefe, die in Sebastian Schwindel auslöst, und er lässt ihn wortlos verstreichen.
»Doch ihr Weg führte nicht ins Heilige Land, sondern in den Tod«, fährt Nikolaus fort. »Und der falsche Gekreuzigte … Ich habe mir von ihm die eigenen Söhne nehmen lassen und die Söhne meiner Söhne. Wie kann jemand wie ich jemals Ruhe und Frieden finden?«
»Es ist nicht deine Schuld«, wiederholt Sebastian. »Man hat dich getäuscht und benutzt.«
»Wohin ich auch gehe …«, sagt Nikolaus, und plötzlich sind seine Worte schwer, als trügen sie mehr als nur das Gewicht ihrer eigenen Bedeutung. »Was auch immer mit mir geschieht … Ich finde keine Ruhe, Sebastian.« Er hebt den Kopf, und als er Sebastian ansieht, ist er nicht mehr der Mann in mittleren Jahren, sondern ein uralter Greis, das Wrack
eines Menschen: die Augen trüb und halb blind, die Wangen fleckig und hohl, der Mund fast zahnlos, die Lippen blutleer. »Ich habe keine Ruhe gefunden«, sagt er, und es ist noch immer die Stimme des anderen Mannes, die Sebastian hört. »Mein Körper liegt in dem Grab, das du gesehen hast, aber meine Seele …« Er deutet hinaus, in den fallenden Schnee. »Ich wollte keine Ruhe finden. Verstehst du, Sebastian? Als ich in dem Bett lag, am offenen Fenster, dem Tode nahe … Ich habe Gott um Hilfe gebeten. Ich habe ihn angefleht, mir eine Möglichkeit zu geben, jene zur Strecke zu bringen, die uns so viel Leid brachten. Ich habe es mir mehr gewünscht als alles andere in meinem Leben. Lass meinen Körper sterben, wandte ich mich an Ihn. Aber schicke meine schuldige Seele noch nicht in die ewige Verdammnis, wie sie es verdient hat. Lass sie durch die Zeiten wandern, wie den falschen Gekreuzigten und seine Helfer, bis es wieder so weit ist …«
Sebastian erinnert sich an das Bild, das er gesehen hat: der Tote mit geschlossenen Augen im Bett neben dem offenen Fenster, durch das der Wind die Nässe des kalten Regens weht. Und während Elisa noch weint, löst sich eine kleine Wolke von Nikolaus’ Lippen, für gewöhnliche Augen unsichtbar. Wie suchend schwebt sie umher und findet dann ein Ziel. Der älteste der drei Söhne des Toten schwankt kurz, als die kleine Wolke seine Lippen berührt, und ein tiefer Atemzug lässt den grauen Dunst in ihm verschwinden.
»Der Herr erhörte mein Flehen«, sagt Nikolaus, der Greis. »Er machte mich zu einem Wanderer in der Zeit, zu einem Ruhelosen, der erst dann Frieden findet, wenn er seine Mission erfüllt hat.«
Sebastian fröstelt im warmen Mantel und versucht zu verstehen, was er gerade gehört hat.
»Erst Daniele«, sagt er. »Und dann …«
»Und dann all die anderen, die Söhne meiner Söhne, durch die Jahrhunderte«, krächzt Nikolaus. »Ich habe sie begleitet und an ihrem Leben
teilgenommen, an ihren Freuden und an ihrem Leid. Es überlebten immer nur die ersten Söhne und die Töchter; alle anderen starben, wie Francesco und Giacomo. Mein Versprechen dem falschen Gekreuzigten gegenüber verurteilte sie zum Tode, und so vergrößerte sich meine Schuld, anstatt geringer zu werden.«
Sebastian hört den Kummer in diesen Worten, schwer wie ein Berg. Er weiß nicht, was er tun, wie er Nikolaus Trost zusprechen soll, und so schweigt er, während draußen weiter stumm der Schnee fällt.
»Die Sechs …«, sagt Nikolaus. Seine Lippen
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