Äon - Roman
einer Wand, die hauptsächlich aus Bein- und Armknochen bestand. In halber Höhe und dann wieder ganz oben bildeten Totenköpfe lange Reihen; sie grinsten nicht - ihnen fehlten die Unterkiefer. Krystek war vorausgegangen und stand etwa zehn Meter entfernt in einem Gewölbe, aus dem orangefarbenes Licht drang.
Sebastian musste erneut würgen.
»Tun«, krächzte er. »Was soll ich tun?« Er konnte kaum mehr Vision von Wirklichkeit unterscheiden.
»Wir beide«, sagte Anna. Sie wischte sich Tränen der Verzweiflung und des Zorns aus den Augen. »Vielleicht können wir ihn gemeinsam überwältigen.
»Ich habe mit ihm gesprochen«, brachte Sebastian hervor. »Mit Nikolaus. Er hat mir gesagt …« Er zögerte. Was hatte Nikolaus ihm gesagt? Etwas Wichtiges, da war er sicher, aber es fiel ihm nicht ein. Anna packte ihn an den Schultern.
»Nikolaus ist nicht hier«, sagte sie leise und eindringlich. »Wir sind auf uns allein gestellt. Hast du gehört, Bastian? Begreifst
du, was hier geschieht? Nicht nur mit uns, meine ich. Denk daran, was Anatoli uns erzählt hat. Und stell dir vor, was geschieht, wenn Krystek und die anderen Erfolg haben. Bastian!«
Sebastian starrte an Anna vorbei und rechnete fast damit, hinter ihr eins der Ungetüme aus dem Ödland zu sehen.
»Kommt her«, sagte Simon Krystek, und obwohl er in dem zehn Meter entfernten Gewölbe stand, schien seine Stimme direkt neben ihnen zu erklingen. Sie erreichte Sebastians Beine wie ein Befehl seines eigenen Gehirns - er richtete sich auf und wankte durch den Gang, in Richtung Höhle. Anna blieb an seiner Seite, und erneut traten Tränen in ihre Augen. »Wir müssen etwas tun, Bastian!«, zischte sie. » Jetzt!«
Sebastian hörte heulenden Wind, und Nikolaus’ Stimme verlor sich darin. Er sah, wie sich seine Lippen bewegten - die rissigen Lippen des uralten Greises -, aber ihn erreichten nur Fragmente von Worten, unverständlich, ohne Zusammenhang. Oder war es das fremde Wesen in ihm, das ihn nicht verstehen lassen wollte und seine Erinnerungen manipulierte?
Was hatte Nikolaus gesagt?
Krystek deutete auf eine fast zwei Meter große Öffnung im Boden. Die rostigen Sprossen einer Leiter führten in die rabenschwarze Tiefe. »Unser Ziel befindet sich dort unten.«
Sebastian verspürte sofort den Drang, sich dem Loch zu nähern und in die Dunkelheit hinabzuklettern, aber Anna kam ihm zuvor. Sie warf ihm einen entschlossenen Blick zu, näherte sich der Öffnung - und gab Krystek einen Stoß, der ihm das Gleichgewicht raubte. Ohne einen Laut stürzte er in die Tiefe und verschwand in der Finsternis.
Anna wirbelte sofort herum, sprang zu Sebastian, ergriff seinen
Arm und zerrte ihn zurück in den Tunnel, den sie gerade verlassen hatten.
Sebastian blickte über die Schulter und beobachtete, wie Simon Krystek durch die Öffnung im Boden nach oben zurückkehrte, als stünde er auf einer unsichtbaren Liftplattform.
»Schluss damit«, sagte er ruhig. Sebastian hörte die Worte wie das dumpfe Donnern brechender Wellen. »Mach Schluss damit, Sebastian. Dies ist nicht mehr dein Leben. Eine ganz neue Existenz erwartet dich. Nimm das hier.«
Krystek warf etwas, und Sebastian fing es auf: ein spitzer Dolch aus glänzendem Metall. Er hatte dieses Objekt schon einmal gesehen. Seine Hand schloss sich fest um den Griff, und sein Blick ging zu Anna. Neues Entsetzen erschien in ihren Augen, als sie zur Wand zurückwich.
Zu der Wand aus Knochen …
Sie bildeten ein besonderes Muster, das Sebastian jetzt wiedererkannte; er hatte es in der ersten Vision gesehen. Mit kühler Distanz beobachtete er, wie die Frau - Himmel, es war Anna! - an der Wand stehen blieb und abwehrend die Arme hob. Langsam trat er auf sie zu. Handelte er unter Zwang?, fragte er sich. War es falsch, die Frau zu töten, wenn sie zu einem anderen Leben gehörte, das ihn nicht mehr betraf? War es falsch, sich von Ballast zu befreien?
Verdammt, es ist Anna!
Noch ein Schritt. Dicht vor ihr blieb er stehen und hob den Dolch. Nein, es war kein Zwang. Er wollte die Frau töten; es war seine Entscheidung. Er hätte den Arm sinken lassen und den Dolch wegwerfen können, doch das wollte er nicht. Mühelos stieß er die abwehrend gehobenen Hände beiseite, und die Spitze des Dolchs zielte auf Annas Hals …
Der Wind heult und kreischt ein letztes Mal, und dann schweigt er. Stille senkt sich auf das öde Land, das von monströsen Geschöpfen übersät war. Sebastian hört nur noch das Kratzen, das von der über
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